Jüdisches Landleben: Eine Veröffentlichung von Gisbert Strotdrees vermittelt Einblicke in vergessene Welten in Westfalen

18.10.2024 Marcel Brüntrup

Christiane Cantauw

Drei Viertel aller Jüdinnen und Juden Westfalens lebten um 1800 auf dem Land. Ihr Anteil an der Bevölkerung war bis auf wenige Ausnahmen aber sehr niedrig (ein bis zwei Prozent), lediglich in einzelnen Orten des Fürstbistums Paderborn überstieg der Anteil der Menschen jüdischen Glaubens punktuell die 10% - Marke (Peckelsheim, Herlinghausen). Anders als das städtische Judentum rückten die „Landjuden“ – dies übrigens keine Selbstbezeichnung sondern eine wissenschaftliche Kategorie der 1980er Jahre – aber erst im ausgehenden 20. Jahrhundert wieder ins Bewusstsein. Anteil daran hatte neben der Geschichtswissenschaft unter anderem auch die Geschichtswerkstattbewegung, die nach jahrzehntelangem Schweigen und Verdrängen in Deutschland nach dem Verbleib der jüdischen Nachbar:innen zu fragen wagte.

Mittlerweile ist ungeachtet der Tatsache, dass nur noch wenige Zeugnisse jüdischen Lebens vorhanden sind, hinsichtlich der Erinnerungskultur viel geschehen. Museen, Gedenkstätten, Publikationen, wissenschaftliche Tagungen und neue Formen der Erinnerung weckten Interesse für die jüdische Kultur in Westfalen und darüber hinaus. Diesem Interesse kommt Gisbert Strotdrees mit der vorliegenden Publikation entgegen. Mit ihrer dezidiert an der westfälischen Landbevölkerung ausgerichteten Perspektive enthält sie neben Bekanntem auch viel Überraschendes und Neues.

Da sind beispielsweise die jüdischen Vollerwerbsbauern, die es entgegen einer weit verbreiteten Annahme im 19. und 20. Jahrhundert durchaus gegeben hat. Einer von ihnen, Levi Lilienthal (1810 – 1886), bewirtschaftete den Paradieshof in Steinheim und machte sich im landwirtschaftlichen Versicherungswesen einen Namen. Auch in der Agrartechnik gab es jüdische Firmengründer wie Samuel Moser, dessen Firma Ph. Mayfarth & Co. Ende des 19. Jahrhunderts zu den führenden Landmaschinenunternehmen in Deutschland gehörte. Auch die Hachschara in Westerbeck bei Westerkappeln, ein Bauernhof, auf dem jüdische Jugendliche in der Zeit von 1934 bis 1938 auf ein Leben als Siedler:innen in Israel vorbereitet werden sollten, ist über den Kreis der Leser:innen des Wochenblatts für Landwirtschaft und Landleben hinaus wohl weniger bekannt.

Die 180 Seiten starke, gut gegliederte und ansprechend gestaltete Publikation dokumentiert Selbstbestimmung, Selbstorganisation und Selbstbehauptung und adressiert die Jüdinnen und Juden „als Individuen, die unter den herrschenden, oftmals einengenden und diskriminierenden Bedingungen ihr Leben gestaltet haben“ (S.14). Das bedeutet nicht, dass Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung nicht deutlich benannt würden, aber es heißt, dass die jüdische Minderheitsbevölkerung nicht als „Opfer“ oder „Objekt“ beschrieben wird.  

Neben den kenntnisreichen Texten, die unter anderem auch zahlreiche Strukturdaten liefern, sind nicht zuletzt auch die zahlreichen Bildquellen hervorzuheben. Sie dokumentieren das Leben der Jüdinnen und Juden in Westfalen auf eine ganz eigene, teils drastische Weise (beispielsweise ein Gedenkstein an der romanischen Kirche St. Andreas in Lübbecke (S.20), der vom Pestjahr 1350 als dem Jahr spricht, in dem die Juden getötet wurden, oder ein Foto von jüdischen Zwangsarbeiterinnen nach ihrer Befreiung in Kaunitz (S.144)). Angesichts der umfassenden Vernichtung der kulturellen Zeugnisse jüdischer Kultur durch den Nationalsozialismus ist es bemerkenswert, wie viele Abbildungen von materieller Kultur und wie viele Fotografien hier noch zusammengetragen werden konnten. Hervorheben möchte ich in diesem Zusammenhang auch die Katasterkarte des Dorfes Herlinghausen von 1820 und das Luftbild einer ganz besonderen Erinnerungsstätte in Verl, die vorne und hinten auf dem Innenteil des Umschlags abgedruckt wurden.

Die Vielfalt der Quellen (autobiografische Dokumente, amtliche Quellen, zeitgenössische Publikationen, Zeitungsberichterstattung, Fotografien und materielle Kultur), die der Publikation zugrunde liegen, schafft einen guten Überblick über „sieben Jahrhunderte der Annäherung und Ausgrenzung, der Duldung und Diskriminierung, aber auch der religiösen wie kulturellen Selbstbehauptung“ (S. 160). Friedliches Zusammenleben und Hilfe in der Not werden ebenso thematisiert wie Antisemitismus, Diskriminierung, Mordlust, Zerstörungswut, Habgier und Schuld, die sich auf Seiten der christlichen Mehrheitsgesellschaft als Motiv durch die Jahrhunderte ziehen. (Zeitgenössische) Vorurteile und ihre Entstehung (beispielsweise die Rede vom „Kornjuden“) werden ebenso angesprochen und widerlegt wie verharmlosende oder bewusst falsche Darstellungen der Täter:innen (beispielsweise zur Pogromnacht am 9. November 1938).

Ein Anhang wartet auf mit Informationen über Stätten der Erinnerung und Orte der Begegnung wie Haus Uhlmann im Freilichtmuseum Detmold, die alte Synagoge in Petershagen oder das Forum Jacob Pins in Höxter. Ein Verzeichnis zentraler und wichtiger Quellen und Literatur rundet die Darstellung ab.

Dem Buch von Strotdrees gingen dreißig Jahre wissenschaftlicher Wiederentdeckung des Landjudentums voraus. Das Verdienst des Autors ist es, die vielfältigen Ergebnisse dieser Arbeit (zu nennen wäre hier allem voran das vierbändige Historische Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe) allgemein verständlich kommuniziert und anschaulich aufbereitet zu haben.

Informationen zum Buch:

Gisbert Strotdrees
Jüdisches Landleben
Vergessene Welten in Westfalen
LV.Buch im Landwirtschaftsverlag
180 Seiten, Hardcover mit Lesebändchen
17 x 24 cm
24,00 €
ISBN 978-3-7843-5781-2