(Kein) Schutz für „Betonmonster“?
(Kein) Schutz für „Betonmonster“?
Rathäuser der 1960er und 70er Jahre in der Denkmaldiskussion
Wolfgang Jung
Gronau stand am Anfang. 2016 wurde das 40 Jahre alte Sichtbeton-Rathaus dort nach einem positiven Gutachten des Landschaftsverbands LWL unter Denkmalschutz gestellt. In der Gronauer Bevölkerung waren allerdings viele dagegen. In Telgte wird seit 2017 über den Denkmalschutz fürs Rathaus diskutiert, auch hier gibt es ein Gutachten des LWL, das dem Bau von 1974 klar Denkmalwert bescheinigt. – Und auch hier kritisieren Teile von Politik und Bevölkerung die geplante Unterschutzstellung lautstark. Und zuletzt hat Greven den – wiederum umstrittenen – Schritt gewagt und sein denkmalwürdiges Rathaus von 1973 (Foto) unter Schutz gestellt.
Alle drei Rathäuser sind im Stil des „Brutalismus“ der 1960er und 70er Jahre gebaut, dessen Hauptmerkmal die Verwendung großformatiger Sichtbetonelemente ist. (Die glaubwürdigste Etymologie des Begriffs „Brutalismus“ ist abgeleitet von franz. „béton brut“ = roher Beton. – Der geborene Schweizer und spätere Franzose Le Corbusier gilt als einer der Väter dieses Stils.) Und alle drei Beispiele illustrieren die Widerstände und das Unbehagen, die den oft so gescholtenen „Betonmonstern“ entgegenschlagen. In Greven schrieb eine der Lokalzeitungen schon kurz nach der Einweihung des Rathauses: „Nicht anfreunden [können sich] viele Bürger unserer Stadt mit den zahlreichen grauen Sichtbeton-Elementen, die ihnen zu trist erscheinen“ (Münstersche Zeitung vom 3. November 1973). – Und so nehmen viele Grevenerinnen und Grevener ihr Rathaus bis heute wahr.
Dieses Unbehagen steht im scharfen Gegensatz zu den Auffassungen der Denkmalpflege und der akademischen Architekturkritik. Anscheinend fällt es schwer, der breiten Bevölkerung den objektiven Wert und die Bedeutung der brutalistischen Architektur zu vermitteln. In Greven hat die Stadtverwaltung im Vorfeld der Denkmalentscheidung deshalb vieles versucht, um die Gründe für die Unterschutzstellung des Rathauses für die Öffentlichkeit verständlicher zu machen (mit einem Flyer, einem Vortrag und einem längeren Beitrag auf der städtischen Homepage).
Rathaus Greven: große Qualität, hohe Relevanz
Das Grevener Rathaus hat einen gewissen „Star-Appeal“, es ist das Werk eines der bekanntesten deutschen Architekten der Nachkriegszeit: Dieter Oesterlen (1911 – 1994), der unter anderem den Plenarsaal des Niedersächsischen Landtags in Hannover und die deutsche Botschaft in Buenos Aires entworfen hat. Der Vorsitzende der Jury, die 1969 im Gestaltungswettbewerb um den Bau des Grevener Rathauses entscheiden durfte, war der international hoch geachtete Architekt Egon Eiermann, der Erbauer der Berliner Gedächtniskirche. Er und seine Mit-Juroren kürten den Oesterlen-Entwurf zum mit Abstand besten Beitrag im Wettbewerb..
Schon Egon Eiermann hob damals einen Aspekt in Oesterlens Planung besonders hervor: den nach Süden vorgelagerten, aufgeständerten Ratstrakt. Dieser Ratstrakt (im Bild mit dem Turm der historischen Martinikirche im Hintergrund) könne für Greven „zum einprägsamen Symbol der parlamentarischen Selbstverwaltung werden“ (aus: Westfälische Nachrichten vom 15. Mai 1969).
Tatsächlich ist dieser Teil des Rathauses so gebaut, dass er die Rolle des Stadtparlaments in der modernen bundesrepublikanischen Kommune gut zum Ausdruck bringt: Der gewählte Rat ist eigenständig in seinen Entscheidungen, unabhängig von der Verwaltung. Und dadurch, dass der Ratstrakt in gewisser Weise „schwebt“ und aus dem übrigen Rathaus „herausragt“, bekommt diese Definition eines souveränen parlamentarischen Selbstbewusstseins ihre gelungene bauliche Entsprechung. Das Rathaus in Telgte, das kurze Zeit später von einem Grevener Architekten(!) gebaut wurde, hat einen sehr ähnlich gestalteten, vorgelagerten Ratstrakt.
Bemerkenswert am Grevener Rathaus ist auch der viergeschossige mittlere Gebäudeteil, in dem sich der Haupteingang und die zentrale verbindende Treppenhalle finden. Diese Treppenhalle ist nach Osten durch die charakteristischen Betonlamellen-Fenster großflächig verglast, sie bekommt also viel direktes Tageslicht. Außerdem sorgen Oberlichte für natürliche Beleuchtung. Die Eingangs- und Treppenhalle war vom Architekten auch als eine Art multifunktionaler Veranstaltungsraum geplant worden. Das Rathaus als ein „Haus der Bürger“, das Raum gibt für vielerlei Aktivitäten: das war die sehr moderne Interpretation eines städtischen Verwaltungsbaus.
Wenig Verständnis für Denkmalentscheidung
Trotz der hohen Qualität des Baus (und die beiden anderen genannten Rathäuser sind dem Grevener in vielem ähnlich) trifft die Entscheidung, das brutalistische Rathaus unter Denkmalschutz zu stellen, heute bei vielen Grevenerinnen und Grevenern auf Unverständnis: „Abreißen, die hässliche Kiste!“ oder „im Ernst????? lol“, so haben viele in den lokalen sozialen Medien auf die Denkmalentscheidung reagiert.
In Zeitungs-Leserbriefen gegen die Unterschutzstellung geht es vor allem um einen praktischen Aspekt: die mangelnde Energieeffizienz des Gebäudes, an der sich unter strengen Denkmalschutzauflagen angeblich auch nur wenig verbessern lasse.
Würde man dieses Argument ins Feld führen, wenn es um den Denkmalschutz für ein Barockschloss oder eine Jugendstilvilla ginge? Über den Denkmalwert von Barock oder Jugendstil würde heute niemand (mehr) diskutieren wollen.
Die brutalistischen Bauten der Nachkriegsmoderne haben es da offensichtlich schwerer. Obwohl ihre Bedeutung als aussagekräftige Schöpfungen eines bestimmten Zeitgeistes – und damit ihr Denkmalwert – genau so klar auf der Hand liegt: Der Brutalismus stellte sich optisch bewusst gegen die Bauweisen vorhergehender Epochen und verzichtete weitgehend auf die Beigabe regionaltypischer Materialien. – Er setzte also überhaupt nicht darauf, ein Gefühl der Vertrautheit oder „Volkstümlichkeit“ zu schaffen. Brutalistische Bauten zeigen einen harten Bruch mit Traditionen. Und sie zeugen damit noch heute vom beherzten Auf-bruch der modernen Nachkriegsgesellschaften.
Dieter Oesterlen, der Architekt des Grevener Rathauses hat diese radikale Art zu bauen, bezogen auf die ersten Nachkriegsjahre in Deutschland, als „Befreiung von der realistischen Blut- und Bodentümelei bzw. vom staatsrepräsentierenden 34sten Aufguß eines fadenscheinigen Klassizismus“ beschrieben, über den die mutigeren Architekten seiner Generation „glücklich waren“ (Dieter Oesterlen: Bauten und Texte 1946 – 91, Tübingen 1992, S. 250).
Die Frage ist nur: Wie viel ihrer denkmalwerten „Programmatik“ vermittelt sich den Benutzern und Betrachtern brutalistischer Bauten heute? Und wie unterscheiden sich heutige Auffassungen von den unmittelbar zeitgenössischen Meinungen über diese Bauten? Die breite Brutalismus-Rezeption jenseits der akademischen Architekturkritik wäre ein spannendes volkskundlich-kulturwissenschaftliches Forschungsfeld. Zu fragen wäre auch grundsätzlicher, ob Baustile, die stärker aufs Ornamentale und auf traditionelle Materialien setzen, es in der breiten Rezeption „leichter haben“, von ihrem Denkmalwert zu überzeugen als Bauten, bei denen das nicht so ist.