Kirchenschweizer

23.06.2023 Marcel Brüntrup

Abb. 1: Der Kirchenschweizer in einer Seitentür der Propsteikirche St. Walburga in Werl (Foto: Adolf Risse, 1956, Archiv für Alltagskultur, Sign. 0000.05797)

Gitta Böth/Christiane Cantauw

Unter der Inventarnummer 0000.05797 findet sich im Bildarchiv der Kommission Alltagskulturforschung eine Schwarzweiß-Fotografie des münsterschen Bildjournalisten und Heimatforschers Adolf Risse. Das Foto zeigt einen in einer halb geöffneten Tür stehenden Mann. In der rechten Hand hält er einen langen Stab, der oben in einer dem Reichsapfel vergleichbaren Kugel mit aufgesetztem Kreuz endet. Bekleidet ist der Abgebildete mit einem Talar, der im Brustbereich, am Kragen und an den Ärmeln mit dunklen Stoffstreifen, wahrscheinlich aus Samt, besetzt ist. Die runde halbhohe Kopfbedeckung, die mittig vorne ein Kreuz ziert, ist schilder- und krempenlos; der untere Rand ist mit einem dunklen Band deutlich abgesetzt.

Dass der Abgebildeten vermutlich ein Mann in kirchlichen Diensten war, liegt nahe, zumal die steinerne Einfassung der schweren Holztür an der rechten Bildseite auf eine Kirchentür schließen lässt. Die Bildbeschriftung klärt auf: Bei dem Abgebildeten handelt es sich um einen Kirchenschweizer, der 1956 in der Seitentür der Propsteikirche St. Walburga in Werl im Kreis Soest fotografiert wurde.

Ein Kirchenschweizer? Sucht man in den heutigen Personallisten von katholischen Kirchen nach „Kirchenschweizern“, stellt man fest, dass sie nur noch in wenigen Kirchen zum Einsatz kommen. Auf der Website katholisch.de ist zu erfahren, dass Kirchenschweizer zu den „vergessenen Kirchenberufen“ gezählt werden; in einigen großen katholischen Kathedralen und Wallfahrtskirchen tun sie – in der Überzahl Männer, seit 2019 (in Köln) auch Frauen – bis heute ihren Dienst.

Für die Kirchgänger und Kirchgängerinnen, aber auch für das touristische Publikum sind die Kirchenschweizer an ihrem Äußeren gut erkennbar: Sie tragen uniformierte Amtskleidung, zum Beispiel lange rote, mit schwarzem Samt besetzte Talare und dazu rote bzw. schwarze, dem Birett ähnliche Kopfbedeckungen oder auch an der Schweizergarde ausgerichtete Uniformen. Unverzichtbares Accessoire der Kirchenschweizer: die langen Zeremonialstäbe.

Kirchenschweizer, die auch Domschweizer, Domstäbler, Pedell, Kirchensoldat, Steckelevogt oder einfach nur Schweizer genannt werden, arbeiten in den Bereichen Aufsicht, Organisation und Information: Sie sorgen für Ruhe und die Einhaltung der Hausordnung, geben Auskünfte, führen bei bestimmten Gottesdiensten, etwa dem Pontifikalamt, den Einzug (und Auszug) der Geistlichen sowie der Ministranten und Ministrantinnen an, regeln den ordnungsgemäßen Ablauf von Prozessionen und übernehmen auch Arbeiten, die ansonsten der Küster erledigt: Türen aufschließen, Glocken läuten oder Kerzenreste entfernen. Eingestellt werden zum Beispiel im Aachener Dom Männer und Frauen, die entweder einem Studium nachgehen oder in Rente sind; sie erhalten für ihren Nebenjob einen regulären Arbeitsvertrag, die Vergütung richtet sich nach den absolvierten Stunden.

Blickt man in die Geschichte der Kirchenschweizer, unterscheiden sich die seinerzeitigen Arbeitsbereiche in einigen Punkten von den heutigen. Der touristische Aspekt spielte vor dem Zweiten Weltkrieg noch keine Rolle; der Anteil von Hilfestellungen im Zeremoniellen war wie auch der von Hausmeister-Tätigkeiten, etwa dem Einheizen oder kleineren Reparaturen, deutlich größer. Ein Arbeitsvertrag von 1856, der im Pfarrarchiv von St. Lambertus in Erkelenz erhalten blieb, listet die Tätigkeiten auf, die der Kohlenmesser Conrad Lausberg und der Schmied Anton Böhmer als Pedelle bzw. Schweizer zu erledigen hatten. Der Vertrag wurde vor dem Königlichen Friedensgericht in Erkelenz geschlossen; die beiden Pedelle wurden vor einem weltlichen Gericht vereidigt, da sie die polizeiliche Ordnung in der St. Lambertus- und der St. Antonius-Kirche aufrecht zu erhalten hatten. Zwölf Posten enthält die Liste der Aufgaben, darunter neben den während der Messfeiern, bei der Kommunion und während der Prozessionen anfallenden Hilfstätigkeiten das Schwätzen, Plaudern und Poltern, die Unruhe und das Stoßen durch Kinder oder Hunde während der Gottesdienste zu verhüten, auf anständige Kleidung zu achten, alte Leute und kleine Kinder in Schutz zu nehmen, den Gang zum Klingelbeutel freizuhalten, bei Bränden und Unfällen Hilfe zu leisten und betrunkenen Personen den Zugang zur Kirche zu verweigern. Jeder der beiden Pedelle erhielt übrigens ein jährliches Honorar von 20 Thalern preußisch Courant aus der Kirchenkasse.

Abb. 2: Kirchenschweizer Stegemann bei der Fronleichnamsprozession 1951 in Borken (Fotograf unbekannt, Archiv für Alltagskultur, Sign. 1993.01300)

Dass sich über die Person des Kirchenschweizers die Möglichkeit eröffnete, die Einhaltung von Regeln durchzusetzen, war sicherlich einer der Hauptgründe seitens der Kirchen, Kirchenschweizer einzustellen. Um die Wende zum 20. Jahrhundert war ihre Beschäftigung jedoch nicht überall üblich. Darauf weist in der zeitgenössischen westfälischen Zeitungsberichterstattung die explizite Hervorhebung des Amtes im kirchlichen Kontext hin. Für einige Kirchengemeinden wie St. Lamberti in Münster oder St. Laurentius in Arnsberg waren Kirchenschweizer das Mittel der Wahl, wenn das Kirchengebäude beispielsweise an den kirchlichen Hochfesten dem Ansturm des Kirchenvolkes nicht gewachsen war. Denn in solchen Fällen erwies es sich als sinnvoll, dass der Einlass geregelt und der Platz in den Kirchenbänken zugewiesen wurde.

Kirchenschweizer hinderten das Kirchenvolk am Schlafen, Essen, Rauchen oder Lärmen in der Kirche ebenso wie daran, hinter den Bänken am Eingang stehen zu bleiben. Die nachdrückliche Aufforderung, sich hinzusetzen, war wohl der Unsitte vieler männlicher Kirchenbesucher geschuldet, während der Predigt die Kirche zu verlassen, um draußen zu rauchen oder in der nahegelegenen Gastronomie einen Schnaps zu trinken. Wenn die Kirchgänger ganz hinten in der Kirche standen, konnten sie unauffällig das Gebäude verlassen und auch wieder hereinkommen. Das sahen die Pastöre aber gar nicht gern und drangen darauf, dass die Sitzplatzbenutzung in der Kirchenordnung festgeschrieben wurde.

Die Kirchenschweizer übten ihr Amt zumeist nebenberuflich aus. Ihre Hauptberufe, die in Zeitungsberichten genannt wurden, zeigen, dass es nicht unbedingt die wohlhabenderen Gemeindemitglieder waren, die dieses Amt antraten. So ist von einem Fabrikarbeiter, einem Schreinermeister, einem Schneidermeister und einem Schulwärter die Rede, die das Zubrot gut gebrauchen konnten. Diese Konstellation dürfte auch der Grund für Konflikte zwischen Schweizern und Kirchgängern und -gängerinnen gewesen sein. Letztere setzten sich, teils auch handgreiflich oder gerichtlich, gegen Anweisungen der Kirchenschweizer zur Wehr. In Arnsberg fühlte sich der Propst 1902 daher aufgefordert, in der Zeitung darauf hinzuweisen, dass „der Kirchenschweizer in Vertretung des Herrn Propstes bei seinen Weisungen das Hausrecht ausübt und ihm daher Jeder unweigerlich Folge zu leisten“ habe. Zuwiderhandlungen hätten in der Vergangenheit auch rechtliche Konsequenzen gezeitigt, nämlich Gefängnisstrafen von 14 Tagen bis zu acht Wochen (Central Volksblatt f. d. Regierungsbezirk Arnsberg, 26.3.1902).

Dass die Kirchenschweizer ihrerseits in dem ein oder anderen Fall das nötige Augenmaß vermissen ließen, verwundert nicht. Letztlich verlieh das Amt den Akteuren eine gewisse Macht, mit der nicht jeder umgehen konnte: So kam es beispielsweise im Fall des Kutschers Weber aus Rheine-Eschendorf vor der Münsterschen Strafkammer zum Freispruch. Am 8. April 1912 hatte der sich in die St. Dionysius-Pfarrkirche begeben, um dort der Messe beizuwohnen. In der Nähe der Kirchentüren war die Kirche so voll, dass es Weber wohl nur schwer möglich war weiterzugehen. Als der Kirchenschweizer ihn aufforderte, Platz zu nehmen, weigerte er sich. Ein weiterer Kirchenschweizer wurde herbeigerufen und der sich wehrende Weber aus der Kirche geworfen. Der Staatsanwalt verfolgte den Fall, weil man eine Störung der Kirchenordnung vermutete. „Das Gericht war jedoch der Auffassung, daß die Kirchenschweizer gar nicht berechtig gewesen seien, den Angeklagten allein aufzufordern. Die Aufforderung hätte vielmehr auch an die rechts und links neben Weber stehenden Personen gerichtet werden müssen.“ (Westf. Merkur, 12.9.1912)

Zur Zäsur in der Geschichte der Kirchenschweizer wurde die Liturgiereform, die nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil Mitte der 1960er Jahre mit der Zelebration versus populum, der Hinwendung der Priester mit dem Gesicht zum Volk, die Messfeiern grundlegend veränderte. Nun hatte der Pastor seine Schäfchen selbst im Blick, die bisher hinter seinem Rücken Unfug treiben konnten. Er benötigte während der Messfeiern keinen speziellen Ordnungshüter mehr.

Der kirchliche Laienberuf des Kirchenschweizers verschwand in der Breite und damit auch ein wenig Prunk. Denn den Feierlichkeiten verlieh der Auftritt der Schweizer – teils begleitet vom zeremoniellen Aufstampfen des Stabes – ein besonderes Gepräge, ein wenig Glanz dürfte dabei auch auf ihre Person gefallen sein.