Kleine Leute in Westfalen. Leben in bescheidenen Verhältnissen

30.08.2024 Marcel Brüntrup

Barbara Stambolis

(Buchcover): Elisabeth Becker (1858-1932) Markthändlerin: Sauerland-Museum Arnsberg/Hedwig Schwarz, Inv.-Nr. 89a, zu ihrer Biografie: „Kleine Leute“ S. 104f.

„Eigen-Sinn“ in „bescheidenen Verhältnissen“

1984 lautete die Überschrift eines alltagsgeschichtlichen, zeitzeugenbasierten Bandes von Lutz Niethammer, Bodo Hombach, Tilman Fichter, Ulrich Borsdorf: „Die Menschen machen ihre Geschichte nicht aus freien Stücken, aber sie machen sie selbst“. Im Untertitel hieß es, das Buch solle als „Einladung zu einer Geschichte des Volkes in NRW“ verstanden werden. 40 Jahre später, 2024, geht es in dem vom LWL-Museumsamt herausgegebenen Band „Kleine Leute in Westfalen“ auch um eine Einladung, nämlich wiederum die, sich der Mehrheitsbevölkerung – nunmehr in Westfalen – in den vergangenen drei Jahrhunderten zuzuwenden.

Einleitend finden sich Reflexionen darüber, was unter dem Leben in „bescheidenen Verhältnissen“ zu verstehen ist. Kleinbäuerinnen und -bauern, Arbeiter:innen, Angehörige gesellschaftlicher Unterschichten, des Kleinbürgertums, Menschen mit Migrationserfahrungen, die sich beruflich und privat mehr oder weniger behaupteten, bekommen eine Stimme. Sicht- und nachvollziehbar wird nicht zuletzt ihr Eigen-Sinn. Darunter lässt sich mit dem Historiker Alf Lüdtke die Fähigkeit und Kraft „einfacher“ Menschen verstehen, trotz begrenzter Möglichkeiten ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen.

„Einfachen“ Menschen ein Gesicht und eine Stimme geben

Zurecht spricht die Herausgeberin Ulrike Gilhaus von der „emotionalen Wucht“ der hier versammelten biografischen Skizzen. Sie schreibt, die porträtierten Personen seien keineswegs „Opfer ihrer beschränkten Lebensverhältnisse“, sondern vielmehr „Subjekte mit Handlungsspielräumen“ (S. 14). In Ausstellungsprojekten haben Expert:innen in westfälischen Museen immer wieder den Blick auf das Alltagsleben durchschnittlicher Zeitgenossen gerichtet. Im Gedächtnis Westfalens, das in Archiven und Museen bewahrt wird, spielen Kriegs- und Krisenzeiten eine nicht unerhebliche Rolle. Sie führten für die Mehrheitsbevölkerung ebenso zu Belastungen wie langfristige Wandlungsprozesse im Zuge von Industrialisierung und Urbanisierung.

Olga Thümer (1907-2004), Strickerin: Ausweis, Foto um 1927, Thümer_Abb1_1998_0963, LWL-Freilichtmuseum Detmold – Westfälisches Landesmuseum für Alltagskultur, in „Kleine Leute“ S. 164.
Strickmaschine mit Zubehör und Produkten, LWL-Freilichtmuseum Detmold – Westfälisches Landesmuseum für Alltagskultur, Inv.-Nr. 1990: 2415, 1998: 1298, 2011:39, in „Kleine Leute“ S. 165.

Welche Objekte gerettet wurden bzw. werden, war und ist oft dem Zufall zu verdanken. Ihre Gebrauchsspuren verleihen ihnen als Exponate zusammen mit dem Hinweis auf die Person, für die sie Bedeutung besaßen, einen kaum zu unterschätzenden Wert. Wie bekommen namenlose Zeitgenossen ein Gesicht? Nicht selten dann, wenn ein Foto einer Situation zugeordnet werden kann. Außerdem: Ähnliche Motive lassen sich vergleichen und geschichtlich einordnen. Dem Leben „einfacher Menschen“ auf die Spur zu kommen, war und ist kleinteilige Puzzlearbeit.

Beeindruckende Lebensläufe, nachdenklich machende Lektüre

Wilhelm Paroth (1899-1992), Bergmann: Wilhelm Paroth, obere Reihe, 2. von rechts mit dem „Mandolinen- und Wanderclub Alpenröschen“ in den Externsteinen. Fotografie, um 1920, LWL-Museen für Industriekultur, Inv.-Nr. WIM 1990/295, in „Kleine Leute“ S. 144.
Hochzeitsgesellschaft Paroth im Gasthof Fritz König. Fotografie, 1927, LWL-Museen für Industriekultur, Inv.-Nr. WIM 1990/294.2, in „Kleine Leute“ S. 145.

Mich hat das Porträt des Bergmanns Wilhelm Paroth (1899-1992) besonders beeindruckt. Er stammte aus dem Sauerland, zog mit seiner Familie früh nach Holzwickede und dann in die benachbarte Gemeinde Sölde. Mit 14 Jahren begann er zu arbeiten, er wurde Bergmann. 1927 heiratete er. In seiner Freizeit spielte er Mandoline und sang in einem Chor. 1990 übergab er die beiden hier präsentierten Fotos dem LWL-Industriemuseum Zeche Zollern. Er habe immer „schöne Arbeit gekriegt“, weil der Steiger wie er selbst Sänger gewesen sei. Es ist eine anrührende Geschichte mit einer knappen, altersklugen Bemerkung dazu, was ein gelungenes Leben ausmachen kann.

Manche der porträtierten Frauen und Männer hätten unsere eigenen Urgroßeltern oder Großeltern gewesen sein können. Hätten wir die Geschichten, die sie zu ihren Herzensobjekten, einzelnen Fotos oder Gegenständen des täglichen Gebrauchs erzählen konnten, aufzeichnen sollen? Welche historische Aussagekraft kommt der Näh- oder Strickmaschine beispielsweise zu, mit der meine Urgroßmutter ihren Lebensunterhalt und den ihrer Familie sicherte? Diese und weitere Fragen dürften sich Leser:innen beim Blättern in dem anregenden, von Ulrike Gilhaus und Kirsten Bernhardt herausgegebenen Buch stellen. Das nachdenklich stimmende, facettenreiche Buch „Kleine Leute“ sei zur Lektüre empfohlen.

Literatur

Ulrike Gilhaus/Kirsten Bernhardt (Hg.): Kleine Leute in Westfalen. Leben in bescheidenen Verhältnissen, Münster 2024.

Lutz Niethammer, Bodo Hombach, Tilman Fichter, Ulrich Borsdorf (Hg.): Die Menschen machen ihre Geschichte nicht aus freien Stücken, aber sie machen sie selbst. Einladung zu einer Geschichte des Volkes in NRW, Bonn 1984.

Alf Lüdtke: Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg 1993 (2. Aufl. Münster 2015).