Auf der Suche nach kolonialen Spuren in Westfalen

11.03.2022 Niklas Regenbrecht

Einband der Publikation "Koloniale Welten in Westfalen".

Niklas Regenbrecht

Dass Kolonialismus sich nicht nur in der weiten Welt, außerhalb Europas und mithin in „Übersee“ abspielt(e), ist längst kein Geheimnis mehr. Wie sich koloniale Strukturen und koloniale Geschichte auf eine Region wie Westfalen auswirkten, welche Verknüpfungen und Verbindungen zwischen Provinz und Weltpolitik bestanden und welche kolonialen Spuren sich hier heutzutage noch feststellen lassen, erkundet der jüngst erschienene Sammelband „Koloniale Welten in Westfalen“, herausgegeben von Sebastian Bischoff, Barbara Frey und Andreas Neuwöhner.

Der Band geht zurück auf eine gleichnamige Tagung, die im Jahr 2019 an der Universität Paderborn ausgerichtet wurde (Tagungsbericht bei H-Soz-Kult). Bei der Tagung wurde in vier Sektionen nach kolonialen Erinnerungsorten, den Potentialen der regionalen Geschichtsschreibung im Rahmen der Kolonialgeschichtsforschung, kolonialen Netzwerken und dem heutigen Umgang mit kolonialem Erbe im Museum gefragt. Diese Aspekte finden sich in den insgesamt 17 Beiträgen des Tagungsbandes zum Nachlesen versammelt.

 

Die Einleitung der Herausgeber konstatiert zunächst: „Kolonialismus fand nicht nur ‚woanders‘ statt. Er hinterließ Spuren – materielle wie Gebäude, Denkmäler, Objekte, Dokumente, immaterielle wie koloniales und rassistisches Gedankengut und andere Kontinuitäten wie weltweite ökonomische Abhängigkeiten und Ungleichheiten.“ (S. IX) Diese Spuren waren oder sind nicht immer sichtbar. Lokale Geschichtsinitiativen, Forschungen in einzelnen Städten und Universitäten leisteten bislang Beiträge zur regionalen Kolonialgeschichtsschreibung. Diese stünden allerdings bislang recht isoliert da. In westfalenweiter Perspektive gibt es hingegen noch einige Desiderate: „Auf landesgeschichtlicher Ebene steht die Forschung zur kolonialen Vergangenheit in Westfalen-Lippe aber noch ganz am Beginn, auch wenn die lokalen und vor allem stadtgeschichtlichen Beiträge hierzu eine gute Grundlage bieten.“ (S. XVII)

Auch wenn die überregionalen Forschungen zur Kolonialgeschichte seit mehr als 20 Jahren Konjunktur haben, geht es in vielen (lokalen) Fällen noch immer darum, koloniale Spuren wieder aufzudecken, an in Vergessenheit geratene koloniale Ursprünge zu erinnern und Umdeutungen sichtbar zu machen. Genau das leisten die einzelnen Beiträge des Bandes.

So erläutert beispielsweise Tobias Scheidt die Geschichte des Siegener „Krönchens“. Die heute als städtisches Wahrzeichen wahrgenommene Plastik auf einer Kirchturmspitze geht zurück auf das frühneuzeitliche koloniale Engagement des Landesherrn in Brasilien. Der Beitrag zeigt nicht nur die koloniale Geschichte eines Johann Moritz von Nassau-Siegen (1604-1679), sondern auch die Umdeutung seiner Symbolpolitik in späteren Jahrhunderten.

Die wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen Westfalen, Haiti und Kamerun zeigt Tristan Oestermann in seinem Beitrag über ein „afrokaribisch-deutsches Familienunternehmen“. Umdeutungen ganz anderer Art werden hier anhand von Ludovic Pagenstecher (1849-1930) beleuchtet, dem es trotz karibischer Abstammung gelang, im wilhelminischen Deutschland Zugang zur hanseatischen Kaufmannschaft und zum westfälischen Adel zu erhalten und trotz der rassistischen Diskurse der Zeit in der Öffentlichkeit als „weiß“ zu gelten.

In methodischer Hinsicht fordert Johannes Häfner in einem Beitrag über eine seit 1919 projektierte, aber nie umgesetzte „Kolonial-Ehrenburg“: „Regionalise Colonialism“. Er lotet die Möglichkeiten einer „landes- und regionalgeschichtlich fundierten Kolonialgeschichtsschreibung“ (S. 1) aus und sieht die künftigen Herausforderungen in einer noch zu leistenden vergleichenden Perspektive und in der Erweiterung der Untersuchungszeiträume auch in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er zeigt aber auch, wie „das Koloniale“ bereits kurz nach Ende der tatsächlichen deutschen Kolonialherrschaft als touristischer Standortfaktor wahrgenommen und genutzt wurde.

Im Kontext der aktuellen Restitutionsdebatten diskutiert der Beitrag von Paul Duschner den Umgang mit so genannter „Airport Art“. Darunter versteht der Verfasser Kunsterzeugnisse, die seit dem 19. Jahrhundert, vor allem aber nach dem Zweiten Weltkrieg, in Afrika für europäische Käufer produziert und auch als „Ethnokitsch“ oder „Souvenirkunst“ (S. 272) bezeichnet werden. Welche Klischees von afrikanischer Kunst und welche Stereotype damit transportiert werden, untersucht er anhand von Beispielen aus der Sammlung des Lippischen Landesmuseums und von Flohmarktfunden.

Weitere Beiträge widmen sich einzelnen kolonialen Akteuren, wie einem aus Westfalen ausgewanderten Farmer oder einem Kolonialbeamten, den kolonialen Aktivitäten der Dortmunder Handelskammer, verschiedenen Denkmälern und Gefallenentafeln, Sammlern von „Ethnografica“, archivierten Fotonachlässen oder Museumssammlungen.

Die Publikation zeigt somit auf anschauliche Weise die große Bandbreite kolonialer Spuren in Westfalen. Sie führt lokales, oftmals nur örtlich publiziertes Wissen zusammen. Der Band löst den in der Einleitung geäußerten Anspruch, einen Beitrag zur „postkolonialen Landesgeschichte“ (S. XIX) leisten zu wollen, vollumfänglich ein. Die einzelnen Aufsätze sind gut lesbar und ansprechend bebildert. Sie zeigen, dass sich koloniale Spuren auf den unterschiedlichsten Feldern analysieren lassen, seien es biografische Herangehensweisen, Untersuchungen im Bereich von Kunst- oder Wirtschaftsgeschichte, Aspekte der Erinnerungspolitik oder die Betrachtungen einzelner überlieferter Sammlungen, um nur ein paar zu nennen. Es bleibt zu hoffen, dass die vorliegende Publikation zu weiteren Forschungen in dieser Richtung inspiriert und anregt. Als Vorbild dazu wäre sie in jedem Falle bestens geeignet.

 

Sebastian Bischoff, Barbara Frey und Andreas Neuwöhner (Hg.): Koloniale Welten in Westfalen (Studien und Quellen zur Westfälischen Geschichte, Bd. 89), Ferdinand Schöningh, Paderborn 2021, 338 S.