„Du bist uns geraubt in schwerer Zeit“. Kolonialrevisionismus auf Notgeldscheinen (Teil 3)

14.04.2023 Marcel Brüntrup

Christiane Cantauw

Dass sich über Serienscheine mehr oder weniger subtil kolonialrevisionistische Bildprogramme verbreiten ließen, wurde in diesem Blog bereits in zwei Beiträgen über zwei Serien dargelegt. [Teil 1] [Teil 2] 

Im letzten Beitrag zu diesem Thema wird auf eine aus zwei Reihen bestehende Serie eingegangen, die teils deutlich von den bereits vorgestellten abweicht. Herausgegeben wurden die insgesamt acht Serienscheine vom Amt Neustadt in Mecklenburg, heute Neustadt-Glewe, gelegen im südwestlichen Mecklenburg-Vorpommern. Die Nennwerte der Scheine sind 50 Pfennig bzw. 75 Pfennig.

Das Amt Neustadt gab 1922 zwei Reihen von Sammelscheinen heraus, deren Vorderseiten stark differieren, deren Rückseiten aber durchaus einen Zusammenhang erkennen lassen (Foto: Kommission Alltagskulturforschung)
Das Amt Neustadt gab 1922 zwei Reihen von Sammelscheinen heraus, deren Vorderseiten stark differieren, deren Rückseiten aber durchaus einen Zusammenhang erkennen lassen (Foto: Kommission Alltagskulturforschung)

Recto finden sich zwei verschiedene Gestaltungen, deren Urheberschaft („Heinberg“ bzw. „Entwurf Heinberg“) sogar angegeben ist. Reihe I ist in gelb und rot/weiß gehalten. Die zentrale Abbildung auf der Vorderseite zeigt einen mit Schilfrohr bestandenen Weiher; links tragen sechs mit Lanzen bewaffnete Frösche einander huckepack, rechts steht ein Storch mit einem Frosch im Schnabel. Der Text dazu lautet: „Schwupp diwupp, es hat geklappt, einen hat er schon geschnappt.“ Oberhalb der Zeichnung finden sich Nennwert und Herausgeber sowie die Angabe zur Gültigkeit der Scheine.

Die andere Reihe weicht gestalterisch und inhaltlich deutlich ab. Hier wird nicht an Lokales angeknüpft, sondern klar kolonialrevisionistisch Position bezogen: Die vier Serienscheine sind in den Reichsfarben der Weimarer Republik schwarz, rot und gold (hier gelb) gehalten. Im Zentrum der Scheine zeigt eine Vignette ein Kreuz mit Strahlenkranz vor der schwarz-weiß-roten Reichskriegsflagge; Bischofsstab und Lorbeerzweig komplettieren die Darstellung, die von dem Satz „Noch nie ward Deutschland überwunden wenn es einig war“ umrahmt ist. Die Vignette ist als mittlerer Teil in ein Spruchband mit dem Schriftzug „Gebt uns unsere Kolonien wieder!“ eingearbeitet. Darunter finden sich Angaben zur Gültigkeitsdauer der Scheine („1 Monat nach Aufkündigung im Amtsblatt“) sowie Hinweise auf den Amtsausschuss als Herausgeber und das Ausgabedatum „April 1922“. Übertitelt sind die Scheine mit „Notgeld Amt Neustadt“.     

Zeitlich wird hier ein Bogen geschlagen von der Deutschen Kaiserzeit bis zur Weimarer Republik. Christianisierung und militärische Eroberungen sind visuell zu einer untrennbaren Einheit verschmolzen, die Ruhm und Ehre verheißt und auf die Kolonien gerichtet ist. Deren Rückgabe erscheint aus dieser Warte zwingend, weil die militärischen Eroberungen der deutschen Kolonisatoren nicht zuletzt durch die Christianisierung der einheimischen Bevölkerung legitimiert waren – ein Ziel, welches die westlichen Nationen jenseits aller Kriegsgegnerschaft einte.

Die Frage nach dem Retter war in diesem Fall rhetorisch gemeint. Als Sinnbild der zivilisatorischen Leistung der Kolonialmacht Deutschland wird hier die Boma in Daressalam (im heutigen Tansania) ins Bild gesetzt (Foto: Kommission Alltagskulturforschung)

„Wann wird der Retter kommen diesem Lande?“

Verso werden auf den Serienscheinen Ansichten aus allen deutschen Kolonien gezeigt. In Reihe I sind die afrikanischen „Schutzgebiete“ abgebildet: Kamerun, Togo, „D. Süd-West-Afrika“ und „Dtsch.-Ost-Afrika“, in Reihe II werden die Kolonien im asiatisch-pazifischen Raum gezeigt: Samoa, „Kiautschou“, „D. Neuguinea“ und Marianen-Karolinen. Zu sehen sind in dieser Untergruppe beispielsweise der Hafen von Apia, der Deutsche Klub in Tsingtau, ein „Pfahldorf der Eingeborenen“ in Neuguinea sowie die Marianen-Insel Pagan. Eingerahmt werden die zentralen Abbildungen rechts und links von Palmen. Auf den Afrika-Serienscheinen sind neben den zentralen Abbildungen Afrikanerinnen und Afrikaner sowie ein Elefant zu sehen. Unterhalb der Abbildungen findet sich jeweils ein zweizeiliges Zitat.

Auch Reihe II arbeitet mit einer textlichen Botschaft. Auf den vier Serienscheinen finden sich je zwei Verse aus dem „Bundeslied vor der Schlacht“ von Theodor Körner (1791 – 1813):

Hinter uns im Graun der Nächte

Liegt die Schande liegt die Schmach.

Liegt der Frevel fremder Knechte

Der die deutsche Eiche brach.

Unsre Sprache ward geschändet,

Unsre Tempel stürzten ein;

Unsre Ehre ist verpfändet,

Deutsche Brüder, löst sie ein!

Das Gedicht bezog sich auf die Schlacht an der Göhrde am 12. Mai 1813; Theodor Körner, der sich dem Lützowschen Freikorps angeschlossen hatte, weilte im Mai 1813 in Dannenberg, wurde aber kurz vor Beginn des Gefechts abgezogen, um an anderer Stelle zu kämpfen. Die Notgeldscheine bringen das Gedicht aus den Befreiungskriegen in Zusammenhang mit den deutschen Kolonien im asiatisch-pazifischen Raum. Dahinter steht die Idee, die „Kolonialschuldlüge“ – d. i. die im Versailler Vertrag enthaltene Einschätzung der Siegermächte des Ersten Weltkriegs, Deutschland sei als Kolonialmacht unfähig gewesen – als solche zu enttarnen. Idyllische Dörfer und Strände sowie die beeindruckende Architektur des Deutschen Klubs in „Tsingtau“ werden als Beleg für das positive Wirken der Deutschen in den asiatisch-pazifischen Kolonien ins Feld geführt.

Ein Serienschein aus Reihe I zu „Dtsch. Ost-Afrika“ ist untertitelt mit der Frage „Wann wird der Retter kommen diesem Land?“ Die zentrale Abbildung zeigt auf diesem Schein die Boma von Daressalam. Hierbei handelt es sich um das erste Stationsgebäude der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft in Daressalam im heutigen Tansania. Einen seinerzeit verfallenen Palast von Majid bin Said, dem Sultan von Sansibar, bauten die deutschen Kolonisatoren 1887 in mehrmonatiger Bauzeit zum Fort aus, das 1898/99 erweitert wurde und als Polizeistation und Gefängnis diente. Dieses Gebäude repräsentiert die gerade in Ost-Afrika unübersehbare Brutalität der deutschen Truppen, die die Gegenwehr der Einheimischen im „Bushiri-Aufstand“ (1889/90), bei der Wahehe-Revolte (1891 – 1894) und im Maji-Maji-Krieg (1905 – 1907) mit Waffengewalt niedergeschlagen hatten. Allein der Maji-Maji-Krieg und in seiner Folge eine Hungersnot aufgrund der Zerstörung von Feldern und Brunnen durch die deutschen Truppen kosteten 250.000 – 300.000 Afrikaner und Afrikanerinnen das Leben. All das war in Deutschland im frühen 20. Jahrhundert durchaus bekannt, hatten doch die Sozialdemokraten und die Zentrumspartei seit 1905 im Parlament darauf hingewiesen. Wie man sich nach der jahrzehntelangen Ausbeutung der einheimischen Bevölkerung durch Zwangsarbeit und der blutigen Niederschlagung jeglicher Gegenwehr als „Retter“ bezeichnen konnte, ist in diesem Zusammenhang nicht nachvollziehbar. Wohl aber ist ersichtlich, was man sich von der Kolonialherrschaft erhoffte, denn das wird auf dem Serienschein auf kleinen Bildchen neben der Untertitelung gezeigt: Elfenbein und Kakao.

Auf vier Serienscheinen finden sich Verse von Theodor Körner, die dieser kurz vor seinem Tod in den Befreiungskriegen verfasst hatte. Das nationale Pathos des Körnerschen Gedichts wird hier für den Kolonialrevisionismus vereinnahmt (Foto: Kommission Alltagskulturforschung)

Gerade nach dem Ausscheiden aus dem Kreis der Kolonialmächte erschien es den Kolonialrevisionisten wichtig, Kolonialismus als Denkstruktur weiterhin zu etablieren und zu verbreiten. Dazu gehörte auch und vor allem die Grundhaltung einer vermeintlichen kulturellen Überlegenheit der deutschen Kolonisatoren, die unter anderem auch Eingang fand in ein entsprechendes Bildprogramm. Serienscheine, die sich bei Sammler und Sammlerinnen großer Beliebtheit erfreuten, transportierten die kolonialrevisionistischen Visionen in die deutschen Wohnzimmer.

Literatur:

Caroline Autaler: Das völkerrechtliche Ende des deutschen Kolonialreichs. Globale Neuordnung und transnationale Debatten in den 1920er Jahren und ihre Nachwirkungen, in: APuZ. Aus Politik und Zeitgeschichte, Ausgabe 40-42/2019: Deutsche Kolonialgeschichte, Bonn. (Online-Ressource unter:  Das völkerrechtliche Ende des deutschen Kolonialreichs | Deutsche Kolonialgeschichte | bpb.de, zuletzt aufgerufen am 13.3.2023). 

Marianne Bechhaus-Gerst: „Nie liebt eine Mutter ihr Kind mehr, als wenn es krank ist“. Der Kolonialrevisionismus (1919 – 1943). In: Deutschland postkolonial? Die Gegenwart der imperialen Vergangenheit, hrsg. von Marianne Bechhaus-Gerst und Joachim Zeller, Berlin 2018, S. 101-122.

Erika Briesacher: A Narrative in Notgeld: Collecting, Emergency Money, and National Identity in Weimar Germany. In: Lindemann, M. et al. (eds.): Money in the German-Speaking Lands. New York: Berghahn, 2017, S. 203-218.