Vom Erwerb der ersten Kolonien in den 1880er Jahren bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges war das Deutsche Reich eine Kolonialmacht, woraus sich auch an den Universitäten neue Forschungsschwerpunkte ergaben. Zwar etablierte sich in Münster keine der neuen Teildisziplinen wie die Tropenmedizin oder die Rassenanthropologie, aber vor allem durch die Initiative des Rechtswissenschaftlers Dr. Hubert Naendrup (1872 – 1947), der im späterem NS-Regime Rektor und Teil der Gleichschaltungskommission der Westfälischen-Wilhelms Universität war, tauchen ab 1904 erste Veranstaltungen mit spezifischen kolonialen Bezügen in den Vorlesungsverzeichnissen auf.
Bereits im Winterhalbjahr 1904/05 hielt er, damals außerordentlicher Professor der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät, am Samstagnachmittag von 5 bis 7 Uhr eine Vorlesung zum „Kolonialrecht“, ein Angebot, das sich in den folgenden Semestern wiederholte. Die Markierung mit einem kleinen Sternchen zeigte dabei an, dass für den Besuch der Veranstaltung keine Gebühren erhoben wurden.
1906 hielt darüber hinaus der Privatdozent Dr. Friedrich Tobler (1879 – 1957) innerhalb der Philosophisch-/ Naturwissenschaftlichen Fakultät eine Vorlesung zur „Kolonialbotanik“ (Produkte, Anbau und Bedeutung tropischer Nutzpflanzen mit besonderer Rücksicht auf die deutschen Kolonien). Es wurde explizit erwähnt, dass diese Vorlesung „für Studierende aller Fakultäten“ sei.
Toblers Interesse an „Kolonialbotanik“ zeigt sich auch darin, dass er sich zur selben Zeit auf ein Stipendium beim Reichskolonialamt bewarb, das ihm ab Juli 1912 einen mehrmonatigen Aufenthalt in „Deutsch-Ostafrika“ (heute Tansania u.a.) ermöglichte, bevor er nach Münster zurückkehrte und dem Botanischen Garten einige afrikanische Pflanzen schenkte. 1907 brachte er das Werk „Kolonialbotanik“ heraus. Solche Forschungen und solches Wissen waren erwünscht, stellten sie die Ausbeutung der Fauna in den Kolonien doch auf eine gesicherte wissenschaftliche Grundlage.
Die Initiative innerhalb der Universität wurde schleißlauch von politischer Seite gefördert und fand, wie oben erwähnt, 1908 einen festen Platz im Vorlesungsverzeichnis. Wie wichtig das Thema universitätsweit genommen wurde, zeigt sich auch daran, dass sich verschiedene Fakultäten und Fachbereiche an dem fächerübergreifenden Veranstaltungsangebot beteiligten. Dies zunächst sogar unentgeltlich, denn der Oberpräsidenten von Westfalen, Eberhard von der Recke von der Horst (1847 – 1911), konnte erst im Nachhinein eine finanzielle Entschädigung für den Mehraufwand der Professoren erwirken.
Aus dem staatswissenschaftlichen Seminar gab Josef Schmöle (1865 – 1922) eine Übung über „Kolonialpolitik“. Die Rechtswissenschaft war erneut mit Hubert Naendrup vertreten, welcher eine Veranstaltung über „Entwicklung und Ziele des Kolonialrechts“ gab. Der Historiker Aloys Meister (1866 – 1925) berücksichtigte in seiner Vorlesung über die Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit besonders die kolonialen Bestrebungen. Aus den Geowissenschaften beteiligte sich Wilhelm Meinardus (1867 – 1952) mit einer Vorlesung zu den deutschen Kolonien; und zu guter Letzt bot Walter Stempell (1869 – 1938) zoologische Exkursionen und Demonstrationen an, bei denen auch koloniale Fragen zur Sprache kommen sollten.
„Kolonialwissenschaften“ als eigene Rubrik im Vorlesungsverzeichnis bestand an der Westfälischen Wilhelms-Universität bis 1917, bevor die Bezeichnung im Verlauf des Ersten Weltkrieges und mit dem Ende der deutschen Kolonialherrschaft durch „Auslandskunde“ ersetzt wurde. Dass die rassistische und einseitige Sicht auf bestimmte Kontinente, Regionen und ihre Bewohner:innen damit kein Ende gefunden hatte, lässt sich anhand der in den Vorlesungsverzeichnissen vorgestellten Themen nur erahnen.
In Kombination mit der Auslandskunde kehrten die Kolonialwissenschaften von 1931 noch einmal für ein paar Jahre in den Lehrplan zurück. Bevor sie mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges in der Kategorie „Vorlesungen für Hörer alle Fakultäten“ aufging und verwand.
Wichtiger Vertreter dieser letzten Periode war der Geschichtsprofessor Hermann Wätjen (1876 – 1944), der seine Vorlesung „Die überseeische Expansion der europäischen Völker seit der Entdeckung Amerikas“ zwischen 1926 und 1941 mindestens dreimal gehalten hat. Das Manuskript dieser Vorlesung ist im Nachlass Wätjen der Universität- und Landesbibliothek Münster überliefert und so lässt sich Wätjens Sehnen nach einem Deutschland als Kolonialmacht noch immer nachlesen, so wie er es vor knappen 100 Jahren den Studierenden vortrug.
Die unter dem Label „Kolonialwissenschaften“ zusammengefassten Lehrveranstaltungen an der Westfälischen Wilhelms-Universität belegen, wie wichtig das Themenfeld innerhalb der Wissenschaften genommen wurde und wie sehr diese bestrebt waren, den Beitrag ihres Faches zur Kolonialpolitik unter Beweis zu stellen. Zur Aufarbeitung der menschenverachtenden Kolonialpolitik und der ihr zugrundeliegenden Geisteshaltungen stellen sie eine wichtige Quelle dar.