Angst vor der Mülllawine. Kommunale Abfallpolitik und die Suche nach Entsorgungswegen in Bielefeld

08.11.2024 Niklas Regenbrecht

Bekanntmachung und Polizei-Verordnung zur Einführung der Müllabfuhr in Bielefeld, Neue westfälische Volks-Zeitung, 1886, StArchBi.

Christian Möller

Menschen machen Müll. Das war schon immer so. Mit der Industrialisierung und dem Wachstum der Städte wurde Abfall jedoch zu einem Problem. In Bielefeld beauftragte der Magistrat der Stadt 1886 einen privaten Fuhrunternehmer mit der Müllabfuhr. Die Haushalte waren nun dazu aufgefordert, den Hausmüll „in dichten und nicht zu großen Gefäßen“ an drei Kehrtagen in der Woche an die Straße zu stellen. 1904 übernahm die Stadt diese Aufgabe und richtete an der Wiesenstraße (heute Werner-Bock-Straße) Stallungen und einen Fuhrpark ein. Müllabfuhr war nun Bestandteil der kommunalen Daseinsvorsorge.

Die Arbeit der Müllwerker war ein staubiger Knochenjob. Die meist mit Asche befüllten Müllgefäße waren schwer und mussten ohne technische Hilfsmittel per Hand auf den Kutschenwagen entleert werden. In den 1920er Jahren begann man in Bielefeld damit, die Müllabfuhr zu motorisieren. Die Stadtreinigung nutzte dafür Fahrgestelle der Firma Dürkopp. Eine Polizeiverordnung legte nun auch erstmals fest, dass Hausmüll nur noch in Metallgefäßen mit einem maximalen Volumeninhalt von 25-35 Litern an die Straße gestellt werden durfte. Die Behälter mussten zudem über Bügel und Seitengriffe verfügen, was das Entleeren erleichterte.

Müllabfuhr mit Pferdewagen, o.D., StArchBi, Foto: Giesche.
Müllastwagen der Bielefelder Stadtreinigung, 1926, StArchBi, Foto: Bergmann.

Nach dem zweiten Weltkrieg setzte ein regelrechter Innovationsschub in der Stadtreinigung ein. Ab Mitte der 1950er Jahre waren nur noch genormte Zinkeimer mit einem Volumen von 25, 35 oder 50 Litern als Müllbehälter zulässig. Die Tonnen durften befüllt nicht schwerer als 50 Kilogramm sein. Technische Verbesserungen ermöglichten nun außerdem den staubfreien Abtransport des Mülls. Die Wagen verfügten zudem über federunterstützte Schüttungen, die den Müllwerkern die Arbeit erleichterten.

Genormte Mülleimer am Straßenrand in Bielefeld, 1956, StArchBi, Foto: Möller.

Parallel dazu ließen wirtschaftlicher Aufschwung und Massenkonsum die Müllmengen explodieren. Eine Flut neuer Verpackungsmaterialien aus Kunststoff erhöhte das Abfallvolumen und erschwerte die Entsorgung. Müll wurde jetzt zum Politikum. In Stadtrat und Stadtverwaltung ging die Angst vor der Mülllawine um. Die gängige Praxis, Abfälle einfach in ausgebeuteten Ton- und Sandgruben oder in Wiesensenken zu verkippen, stieß an ihre Grenzen. Zum einen waren kaum noch geeignete Flächen im Stadtgebiet vorhanden, zum anderen protestierten Anwohner:innen immer häufiger gegen den Betrieb oder die Neueinrichtung von Deponien.

Entladung eines Müllwagens auf der Deponie „Galgenheide“, 1960, StArchBi, Fotosammlung, 21-002-032, Foto: Eduard Heidmann.

Die Kippen befanden sich in einem desaströsen Zustand: Staub, Gestank und Ungeziefer waren an der Tagesordnung. Der Lärm der Müllwagen und Schwelbrände auf den Halden, die ganze Wohnviertel in beißenden Rauch hüllten, taten ein Übriges. Die Stadtreinigung brachte den Hausmüll in den 1950er und 1960er Jahren auf eine große Deponie am Haller Weg, die „Galgenheide“. Sie lag unweit des Botanischen Gartens und war lange Zeit ein städtischer „Unort“: Noch im frühen 19. Jahrhundert als Richtplatz genutzt, wurde hier bis in die 1940er Jahre Sand abgebaut. Nach dem Krieg fanden auf dem Gelände für kurze Zeit Motorradrennen statt, ehe die Stadtreinigung die ausgebeutete Grube mit Müll auffüllte. In den 1990er Jahren wurde die Deponie dann schließlich aufwendig gesichert und renaturiert.

Als sich in den 1960er Jahren abzeichnete, dass der Deponieraum bald erschöpft sein würde, suchte man in Bielefeld händeringend nach Alternativen. Die Stadtverwaltung hatte bereits 1959 den Stuttgarter Abfallexperten Franz Pöpel damit beauftragt, in einer mehrjährigen Untersuchung den Bielefelder „Repräsentativmüll“, wie die Tageszeitungen augenzwinkernd formulierten, zu ermitteln. Der Ingenieur empfahl der Stadt den Bau einer Müllverbrennungsanlage (MVA), während er den umliegenden Kreisgemeinden die Einrichtung einer Kompostanlage nahelegte.

In Kommunalpolitik und Öffentlichkeit setzte daraufhin eine Diskussion über die Vor- und Nachteile beider Entsorgungssysteme ein, die in den 1960er Jahren aus Kostengründen aber zunächst im Sande verlief. Erst nach der Gebietsreform von 1973, als Stadt und Kreis zusammengeschlossen wurden, nahm die Debatte wieder an Fahrt auf. Nach einer Reihe von öffentlichen Anhörungen votierte der Stadtrat 1977 schließlich für die Müllverbrennung. Der Landkreis Herford unterstützte das Vorhaben. Beide Kommunen schlossen 1978 einen Vertrag über den Bau einer Müllverbrennungsanlage in Baumheide, die drei Jahre darauf den Betrieb aufnahm.

Die Müllverbrennung sollte das Problem der Deponieraumknappheit endlich lösen. Darüber hinaus war es mithilfe der Kraft-Wärme-Kopplung möglich, Strom und Fernwärme aus Abfall zu gewinnen. Dennoch formierte sich Widerstand gegen den Bau, der auch nach der Inbetriebnahme anhielt. Anwohner:innen und Umweltschützer:innen fürchteten Folgen für die Gesundheit und eine Zunahme des Verkehrs. 1984 kletterten Aktivist:innen auf die markanten Schornsteinrohre und entfalteten ein Banner mit der Aufschrift „Dioxinschleuder“. Der Protest zeigte Wirkung: Zwischen 1991 und 1996 rüsteten die Betreiber eine Reihe von Reinigungsanlagen nach, sodass die MVA heute eine der „saubersten“ Anlagen in Europa ist.

In den 1980er Jahren rächte sich der über viele Jahre sorglose Umgang mit Müll. Als Bagger in einem Neubaugebiet in Bielefeld-Brake 1983 übelriechenden Schlamm zutage förderten, war das der Auftakt für den wohl größten Politikskandal in der Bielefelder Nachkriegsgeschichte. Der private Betreiber und die Stadt Bielefeld hatten dort zwischen 1958 und 1974 Hausmüll und teils hochgiftige Industrieschlämme in den Tonkuhlen einer ehemaligen Ziegelei deponiert. „Brake“ erregte bundesweit Aufmerksamkeit und wurde zu einem mahnenden Symbol für die Altlastenproblematik. Das Areal musste technisch aufwendig eingekapselt werden und wird bis heute überwacht.

Mit Giftstoffen belastete Baugrube von Familie Venhaus auf der Altlast Brake, 1983, Foto: Venhaus.

Das Bielefelder Umweltdezernat, das 1986 infolge des Skandals entstanden war, identifizierte bis zum Ende des Jahrzehnts 572 Altdeponien und industrielle Altstandorte auf dem Stadtgebiet. Im Bielefelder Altlastenkataster sind heute 140 sanierungsbedürftige Flächen erfasst. Hinzu kommen 630 Altlastverdachtsflächen, bei denen eine Untersuchung noch aussteht. „Brake“ führte zu einem Umdenken. Müllvermeidung und Abfallrecycling erhielten nun mehr Aufmerksamkeit. Doch obwohl sich die Situation seitdem verbessert hat, bleibt die Abfallentsorgung eine Herausforderung.

Diese und weitere Geschichten rund um das Thema „Müll“ sind noch bis zum Ende des Jahres in der Sonderausstellung „Oder kann das weg. #Wegwerfen #Wiederverwenden #Wertschätzen“ des Historischen Museums Bielefeld sehen.

Quellen

Roman Köster, Müll. Eine schmutzige Geschichte der Menschheit, München 2023.

Christian Möller, Abfallpolitik zwischen Ökologie und Ökonomie. Die lange Suche nach Entsorgungswegen in Bielefeld (1957-1995), in: 97. Jahresbericht des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg, 2012, S. 129-162.

Stadtarchiv Bielefeld, 400,10, ZG Samml., Nr. 6753: Presse- und Verkehrsamt der Stadt Bielefeld, 100 Jahre Stadtreinigung, o.D. [1986].

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