Vor 50 Jahren: Kreisreform in Nordrhein-Westfalen. Politisches Tauziehen und Bürgerprotest im Tecklenburger Land

25.02.2025 Niklas Regenbrecht

Bürgermeisterkonferenz des Neuen Kreises Steinfurt, 12.11.1975 (Foto Kreisarchiv Steinfurt).

Andreas Eiynck

Vor genau 50 Jahren wurde mit dem „Münster-Hamm-Gesetz“ die Zahl der Landkreise im Münsterland halbiert und es entstanden die heutigen Kreise Borken, Coesfeld, Steinfurt und Warendorf, die man damals als „Großkreise“ bezeichnete. Damit kam das in den 1960er-Jahren begonnene Mammutprojekt der Kommunal- und Gebietsreform mit dem Ziel einer umfassenden Neustrukturierung der Kommunen und Landkreise zum Abschluss. Die von den Planern angestrebten Effekte wie leistungsfähige Verwaltungsstrukturen und Kostenersparnis hatten aus Sicht vieler Bürger:innen aber auch nachteilige Folgen für die Bevölkerung: weitere Wege zur Kreisverwaltung, räumliche Verlagerung von Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst sowie die Erfahrung einer Niederlage und des Abstiegs in den aufgelösten Kreisen und insbesondere in den früheren Kreisstädten.

Besonders heftig verlief der Widerstand gegen die Kreisreform im Tecklenburger Land. Dort hatte die neue preußische Regierung für Westfalen 1816 aus vormals münsterischen Gebieten und der bereits seit 1707 preußischen Grafschaft Tecklenburg den Landkreis Tecklenburg gebildet und den alten Verwaltungssitz in Tecklenburg zur Kreisstadt ernannt. Hintergrund war sicherlich die Absicht, die protestantische und preußentreue Enklave der alten Grafschaft Tecklenburg in ihrer Eigenständigkeit gegenüber dem katholischen Münsterland zu stärken.

Der Kreis Tecklenburg lehnt die Zusammenlegung und den Kreissitz in Rheine ab, 30.4.1974.

Der erste Schock

Schon 1965 hatte die Landesregierung eine Sachverständigenkommission gebildet, die ein Gutachten mit Vorschlägen zu einer Neugliederung der Städte, Gemeinden und Kreise ausarbeiten sollte. Ende der 1960er-Jahre wurde dann nach dem Prinzip „vom Kleinen zum Großen“ zunächst die Gemeindereform vollzogen – häufig gegen den Widerstand der Bewohner:innen der kleineren Orte, die nun in größere Einheiten „eingemeindet“ wurden.

Parallel dazu begannen die Planungen für eine Reform der Kreise. Ein entsprechendes Gutachten, dessen Inhalte Anfang 1968 an die Öffentlichkeit gelangte, sah für einen zukünftigen Kreis in Nordrhein-Westfalen eine Mindestgröße von 150.000 Einwohnern vor. Diese Zahl wurde in den bisherigen Kreisen im Münsterland nirgendwo erreicht und daher schlug die Kommission eine Zusammenlegung von jeweils zwei bisherigen Kreisen vor: Ahaus zu Borken, Lüdinghausen zu Coesfeld, Beckum zu Warendorf und Tecklenburg zu Steinfurt. Als Sitz der Kreisverwaltung für den neuen Kreis Steinfurt favorisierte die Kommission den bisherigen Kreissitz Burgsteinfurt.

Dieses Gutachten schlug in Tecklenburg wie eine Bombe ein. Ein damaliger Mitarbeiter der Kreisverwaltung in Tecklenburg erinnerte sich 2025, dass die verantwortlichen Verwaltungsspitzen und Politiker eine Auflösung ihres Kreises anfangs für undenkbar hielten. „Seit dem Mittelalter wurde doch immer von hier aus regiert“, war die einhellige Meinung. Doch dieses Argument beeindruckte die Landesplaner nicht im Mindesten. Sie dachten in Kennzahlen wie Mindesteinwohnerzahl und Gebietsflächen, in Wirtschaftsräumen und Entwicklungsachsen, die auf die Zukunft ausgerichtet waren. Unumwunden äußerten die Experten ihre Einschätzung, dass historische, konfessionelle, landsmannschaftliche, politische und sonstige Zusammenhänge zukünftig nicht mehr so entscheidend sein würden wie in der Vergangenheit. Auch der Verlust des Kreissitzes sei für die Entwicklung einer Kommune kein entscheidender Faktor.

Die Stunde der Politik

Nun begann in Tecklenburg die Stunde der Kreispolitiker. Ab März 1968 fanden regelmäßige Besprechungen mit den Parteien und Verbänden statt, um nach der offiziellen Veröffentlichung des Gutachtens der Sachverständigenkommission am 9. April 1968 sofort handlungsfähig zu sein. Am 18. Mai 1968 fand dann eine Sondersitzung des Kreistages statt mit der einzigen Beschlussvorlage: „Der Landkreis Tecklenburg lehnt die Zusammenlegung der Kreise Tecklenburg und Steinfurt ab.“

Die Bevölkerung und besonders die Einwohner der Kreisstadt Tecklenburg wurden im Vorfeld der Sitzung zu einer Protestdemonstration unter dem Motto „Es geht um Tecklenburg“ aufgerufen und zur Teilnahme an der Sitzung eingeladen.

In der Sondersitzung sprachen nach Landrat Bögel und Oberkreisdirektor Rinke die Fraktionssprecher von CDU, SPD und FDP, die Vertreter der Kommunen und der Stadt Tecklenburg sowie die Sprecher von Landwirtschaft, Handwerk und Handel, Industrie und Gewerkschaften. Stellvertretend für alle anderen Vereine und Verbände trug der Kreisheimatpfleger Friedrich Schmedt seine Bedenken vor.

Pressestimmen zur Kreisreform.

Es war die Stunde der kleinen Parteien, denn hier war Einstimmigkeit geboten. Und so trug der Vertreter der FDP seine Ausführungen in einer längeren Rede vor. Er betonte die historische Bedeutung der anstehenden Verwaltungsreform und führte hierzu aus: „Es ist wohl kein zu großes Wort, wenn wir vom Blick in das Jahr 2000 reden, wenn wir die Kreisreform und die Gebietsreform anschauen. Das sind bis zum Jahre 2000 noch 31 Jahre, 7 Monate und 13 Tage. Nach dem Ausbruch des Krieges, also seit 1939, sind ja nun schon bereits 29 Jahre vergangen. Wir sind dahingestürmt, meine Damen und Herren, mit einer Entwicklung in allen Lebensbereichen: Ernährung, Wankelmotor, Musik, EWG, Sex, NATO, Mondrakete, Atomkraftwerke, Herzverpflanzungen, ja, meine Damen und Herren, auch sogar Computereinsatz bei der Eheberatung. So, jetzt verstehen Sie, warum die so strapazierten Begriffe wie Tradition und Kreisbewußtsein, Überschaubarkeit und Entfernung sowie persönliche Kontakte geändert und diese Dinge und auch die Kreisfahne etwa tiefer gehängt werden müssen. Wenn ich bewußt soeben kraß schwarz-weiß male, bleibt nüchtern natürlich übrig, daß in der modernen Gesellschaft des Jahres 2000 eine Verwaltung nicht nach Raubritterepochen, sondern nur nach den Begriffen der Zweckmäßigkeit und der optimalen Wirksamkeit gemessen werden muss“. Und die sah der Redner der FDP nach diesen und weiteren rhetorischen Schrauben am Ende natürlich im Fortbestehen eines selbständigen Kreises Tecklenburg.

Der Vertreter der Heimatvereine schilderte in seiner Stellungnahme die historischen und strukturellen Besonderheiten des Tecklenburger Landes. Er verwies auf ein lebendiges Vereinswesen und den guten Zusammenhalt in einem überschaubaren Umfeld. In einem Großkreis sei so eine Gemeinschaft nicht möglich. Der Kreis Tecklenburg sei kein politisches Zweckgebilde, „sondern als Tecklenburger Land eine eigenständige Landschaft von besonderer Eigenart zwischen der Norddeutschen Tiefebene und dem Münsterland, so daß die Tecklenburger seit 250 Jahren sich zusammengehörig fühlen und ein eigenes Landesbewußtsein entwickelt haben aufgrund einer gemeinsam zurückgelegten Geschichte in einem morphologisch und wirtschaftlich anders als die westfälischen Nachbargebiete gegliederten Raum.“ Die Expertenkommission hatte allerdings bereits im Vorfeld deutlich gemacht, dass sie solche Aspekte nicht mehr von Bedeutung für die zukünftige Entwicklung sah.

Am Ende lehnte der Tecklenburger Kreistag die Zusammenlegung mit dem Kreis Steinfurt einstimmig ab.

Am Montag nach der Kreistagssitzung erschienen in allen drei Tageszeitungen des Tecklenburger Landes, dem „Tecklenburger Landboten“, der „Ibbenbürener Volkszeitung“ und der WN-Regionalausgabe „Der Tecklenburger“, Sonderausgaben zur Ablehnung der Zusammenlegung mit dem Kreis Steinfurt. Die Berichte und Abbildungen waren in allen drei Zeitungen quasi inhaltsgleich und nur redaktionell unterschiedlich aufgearbeitet. Dahinter steckte also eine konzertierte Aktion der Kreisverwaltung.

Letztlich zeigte die politische Diskussion in den folgenden Monaten und Jahren trotz aller Proteste, dass der Kreis Tecklenburg nicht zu halten war und aufgrund seiner geringen Größe sowie seiner geografischen Lage auch nur im Kreis Steinfurt aufgehen konnte. Die Diskussion verlagerte sich vom „ob“ zunehmend auf das „wie“ und einen großen Streitpunkt bildete dabei der zukünftige Sitz der Kreisverwaltung.

Flugblatt für eine Kreissitz in Rheine (um 1972).

Der Streit um den Kreissitz

Bereits 1969 wurde im alten Kreis Steinfurt die Gemeindereform umgesetzt. Die Zahl der Kommunen verringerte sich von 21 auf 16. Das Tecklenburger Land war zu diesem Zeitpunkt noch nicht einbezogen, so dass man sich dort Anfang der 1970er-Jahre zunächst noch mit der Gemeindereform beschäftigen musste.

Der Kreissitz für den projektierten Großkreis Steinfurt war zunächst offen, weil neben Burgsteinfurt und Tecklenburg auch Rheine und Ibbenbüren aufgrund ihrer Größe und ihrer zentraleren Lage vorsorglich den Verwaltungssitz des zukünftigen Kreises für sich beanspruchten.

In kluger Voraussicht hatte man in Steinfurt Anfang 1969 mit dem Neubau eines modernen Kreishauses begonnen, das in den Dimensionen bereits für die Verwaltung eines Großkreises geeignet war. Der achtgeschossige Neubau wurde 1972 bezogen und galt als Musterbeispiel eines modernen Verwaltungsgebäudes. Damit war ein entscheidender Faktor für den Erhalt des Kreissitzes in Steinfurt geschaffen.

In enger Abstimmung mit dem Kreis entschied man sich in Burgsteinfurt nach langem Zögern am Ende für eine bis dahin als undenkbar betrachtete Zusammenlegung mit der Nachbarstadt Borghorst. Dieser Zusammenschluss wurde im Mai 1973 im Vorfeld der Kreisreform beschlossen und damit war der Kreissitz gerettet, denn im Mai 1974 legte der Landtag die Stadt Steinfurt als Sitz des neuen Kreises per Gesetz fest.

Einen Monat später trat zum ersten Mal die „Kommission Steinfurt/Tecklenburg, Greven und Saerbeck“ zusammen, um das Verfahren und technische Abläufe beim Übergang der Verwaltung zu besprechen. Sie tagte fortan abwechselnd in Burgsteinfurt und in Tecklenburg. Die Vertreter des Kreises Tecklenburg konnten dort ihre Vorstellung aber nicht durchsetzen und fühlten sich übervorteilt.

Ausschnitt aus der 'Münsterischen Zeitung' vom 9. Mai 1974.

Vom Protest zum Rechtsweg

Quasi in letzter Minute ging der Kreis Tecklenburg einen ungewöhnlichen Schritt. Im Juni 1974, kurz nach der Verabschiedung des „Gesetzes zur Neugliederung der Gemeinden und Kreise des Neugliederungsraumes Münster/Hamm“ („Münster-Hamm-Gesetz“) durch den Landtag, bildete der Kreis Tecklenburg einen Prozessausschuss, der eine Verfassungsbeschwerde vorbereiten sollte. Man äußerte Zweifel am Verfahren und der Richtigkeit der kommunalen Neugliederung.

In der Beschwerdeschrift heißt es wörtlich: „Die Neugliederungsmaßnahme ist weder gemeinwohlerforderlich, noch mit rechtsstaatlichen Grundsätzen vereinbar. Sie verstößt gegen die verfassungsrechtlichen Grundsätze der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit.“ Diese Klage wurde aber im November 1976 abgewiesen. Da existierte der Kreis Tecklenburg schon seit fast zwei Jahren nicht mehr.

Unterdessen hatte sich 1974 in Wattenscheid die „Aktion Bürgerwille“ gebildet, die das gegen die Kreisreform gerichtete erste Volksbegehren in Nordrhein-Westfalen organisierte. Immerhin 720.000 Bürgerinnen und Bürger unterzeichneten den Antrag, was allerdings nur etwa 6 % der Stimmberechtigten entsprach. Damit war die erforderliche Quote von 20 % längst nicht erreicht. In den Kreisen Steinfurt und Tecklenburg unterzeichneten weniger als 5 % der Wahlberechtigten das Volksbegehren.

Zum 1.1.1975 formierte sich der neue Kreis Steinfurt mit Sitz in Steinfurt. Er umfasste die Altkreises Steinfurt und Tecklenburg sowie die Stadt Greven und die Gemeinde Saerbeck, die bis dahin zum Kreis Münster-Land gehört hatten. Während in Burgsteinfurt die Sektkorken knallten, war von Begeisterung im Tecklenburger Land nichts zu spüren.

Feier nach der letzten Kreistagssitzung in Tecklenburg am 17.12.1974 (Foto Kreisarchiv Steinfurt).

Die weite Entfernung bis zum Kreishaus in Burgsteinfurt wurde dort als großer Nachteil empfunden, obwohl direkte Kontakte der Bevölkerung zur Kreisverwaltung ja eher selten sind und im Kreishaus in Tecklenburg eine Nebenstelle der Kreisverwaltung bestehen blieb. Eine Zeitzeugin erinnert sich: „Damals hieß es: „Wo liegt das eigentlich, dieses Steinfurt? Und wie kommt man dort hin? – Irgendwo hinter Ibbenbüren. – Wo denkst Du hin: hinter Emsdetten! – So, so, fast 50 Kilometer.“

Rückblick und Ausblick

50 Jahre nach der Kreisreform widmete der Kreis Steinfurt sein Jahrbuch 2025 unter dem Motto „1975 – 2025. Wir werden 50“ als „Jubiläumsbuch“ dem Thema Kreisreform und Kreisentwicklung. Dabei wurde auch dem kritischen Rückblick ausführlich Raum eingeräumt. Beiträge mit Überschriften wie „Vernunftehe mit Tendenz zur Zwangsheirat“, „Tauziehen um die Kreisstadt“, „Raubrittermethoden und Landesklau“ oder „Alles, bloß nicht Steinfurt“ erinnern dort an die heißen Diskussionen der Vergangenheit, doch wird in den meisten Beiträgen auch hervorgehoben, dass die Streitigkeiten heute längst Geschichte sind.

Ein Zeitzeuge der Kreisreform, der frühere Gemeindedirektor von Recke Robert Herkenhoff, erinnert sich im Jahrbuch an eine Äußerung des Wirtschaftswissenschaftlers Prof. Dr. Heribert Meffert von der Universität Münster, der bei einem Vortrag vor den Hauptverwaltungsbeamten des Kreises Steinfurt im Vorfeld der Kreisreform geäußert habe: „dass die Neugliederung gelingen wird, eine Identifikation mit der Neuordnung allerdings erst in mehreren Generationen erzielt werden kann.“

 

Literatur:

UNSER KREIS 2025. Jahrbuch für den Kreis Steinfurt, Bd. 38. Steinfurt 2024.

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