Schuften im Akkord. Kriegsgefangene aus England und Russland im Hüttenwerk Hüsten 1915/1916

13.12.2024 Niklas Regenbrecht

Gregor Maximilian Weiermüller

Bereits im 1. Weltkrieg wurden in Deutschland Kriegsgefangene zur Zwangsarbeit eingesetzt. Das war auch im Werk Hüsten im Hochsauerland von 1915 bis 1918 der Fall. Das Puddel- und Walzwerk Hüsten bestand bereits seit 1839, als die Konzession für die Firma Josef Cosack & Comp. zur Errichtung eines Stahlwerks in Hüsten erteilt wurde.

Hochofenanlage des Hüstener Hüttenwerkes um 1920. Vgl. Ahlborn, Reiner / Heimatbund Neheim-Hüsten e.V. (Hrsg.): Hüstener Hüttenwerk 1839-1966 (An Möhne, Röhr und Ruhr 29), Arnsberg 2003, S. 63.

1916 erfolgte die Fusion mit der Gelsenkirchener Bergwerks-A.-G. (GBAG). In der Historie des Werks werden die Modernisierung der Betriebsanlagen und der Einsatz von Kriegsgefangenen nur beiläufig erwähnt. Dennoch lassen sich aus den Quellen einige Rückschlüsse ziehen. Ab 1915 wurden Kriegsgefangene in sauerländischen Unternehmen zur Arbeit verpflichtet, weil viele Arbeiter aus den Belegschaften eingezogen worden waren und die Produktivität unter dem Arbeitskräftemangel litt. Die Haager Landkriegsordnung von 1899 erlaubte es in Artikel 6, Kriegsgefangene „mit Ausnahme der Offiziere nach ihrem Dienstgrad und nach ihren Fähigkeiten als Arbeiter zu verwenden“. In der auch vom Deutschen Kaiserreich unterzeichneten Landkriegsordnung heißt es des Weiteren: „Diese Arbeiten dürfen nicht übermäßig sein und in keiner Beziehung zu den Kriegsunternehmungen stehen.“ Der Einsatz von Kriegsgefangenen in der Landwirtschaft konnte gerade noch als vertragsgemäß gelten, ihre Zwangsarbeit im Bergbau und in der Stahlindustrie war aber sicherlich ein Beugen oder sogar Brechen dieses Abkommens, waren Kohle- und Stahlindustrie doch unentbehrlich für die Herstellung von Waffen.

Der Ablauf der Anforderung von Kriegsgefangenen erforderte die Kommunikation zwischen Unternehmen und Generalkommando. Jedes Unternehmen hatte die von der Inspektion der Gefangenenlager des Stellvertretenden Generalkommandos des VII. Armeekorps in Münster im Juni 1915 aufgestellten „Bedingungen für Überweisung von Kriegsgefangenen für die Industrie“ unbedingt zu beachten. Diese regelten ihren Einsatz im Unternehmen, ihre Unterbringung im Lager, die täglichen Sätze ihrer Verpflegung, ihre medizinische Versorgung im Stammlager und im Arbeitskommando

„Bedingungen für Überweisung von Kriegsgefangenen für die Industrie“. Vgl. Bergbau-Archiv Bochum, Hibernia AG, 32 / 4340, hier: Schreiben von Königliche Bergwerksdirektion, Recklinghausen, 19. Februar 1917 (Vgl. Landesarchiv Saarland, Bergwerksdirektion Saarbrücken, Nr. 175, S. 64-66).

Als eindeutiger Verstoß gegen Artikel 6 der Haager Landkriegsordnung können eine unzulässig exzessive Arbeit, der Einsatz in Produktionsstätten sowie der unangemessene Umgang mit geschwächten oder erkrankten Kriegsgefangenen gewertet werden.

Im Werk Hüsten haben Kriegsgefangene in drei Bereichen gearbeitet: als Akkord- oder Platzarbeiter und als Handwerker. Im Dezember 1915 arbeiteten drei russische, zwei französische und vier belgische Kriegsgefangene als Akkordarbeiter sowie 75 englische, 42 russische und neun französische als Platzarbeiter. Wenige Monate später war die Anzahl der im Hüstener Werk beschäftigten Zwangsarbeiter auf insgesamt 495 Personen angewachsen.

Im Werk Hüsten zeigten sich bei der Kriegsgefangenenbeschäftigung teils Elemente radikalisierter Arbeit: Als exzessiv kann beispielsweise das händische Beladen der Wagen mit Schrott gelten. Ob die erlaubten zehn Arbeitsstunden dabei überschritten wurden, ist nicht dokumentiert. Weil die Kriegsgefangenen die geforderte Arbeitsnorm aber oft nicht erfüllen konnten, wurde auch verbal Druck aufgebaut: So galt beispielsweise als „Bremser“, wer „das normale Durchschnittsarbeitsquantum ohne besonderen Grund“ nicht erreichte. (Vgl. WWA Dortmund, F 65 Nr. 475.). Positive Arbeitsanreize wie eine bessere Bezahlung waren nicht vorgesehen: „Der Verdienst des Gefangenen ergibt sich durch Multiplikation der Prozentzahl mit dem Verdienst des einheimischen Arbeiters. Eine untere Grenze für die Entlöhnung wird nicht festgesetzt.” (WWA Dortmund, F 65 Nr. 475.)  

Ein Bemühen um Menschlichkeit gegenüber den Kriegsgefangenen lässt sich aus den Quellen nicht ersehen. Sie wurden nicht nur schlechter entlohnt als die deutschen Arbeiter, sondern auch diszipliniert, sobald ihr Arbeitspensum den Vorgaben nicht entsprach. Letzteres galt aber auch für die deutschen Beschäftigten, die sich bei Minderleistung einem Schlichtungsausschuss für zu langsam arbeitendes Stammpersonal stellen mussten.

Die „Bedingungen für die Überweisungen von Kriegsgefangenen für die Industrie“ lassen erkennen, wie sehr die deutsche Industrie auf Kriegsgefangene als Arbeitsreserve angewiesen war. Außerdem zeigen sie, wie sehr diese als Objekte staatlichen Handelns letztlich einer Wertschöpfungsidee unterlagen, die Menschlichkeit und Würde hintenanstellte. Dies implizierte auch einen weit verbreiteten Rassismus gegenüber den zur Zwangsarbeit verpflichteten Soldaten. So wurde in den Quellen beispielsweise die Bezeichnung „der Russe“ pauschal für jegliche Gefangenen aus Osteuropa verwendet und mit entsprechenden Stereotypisierungen verknüpft.  

 

Quellen und Literatur:

Handbuch der Deutschen-Aktien-Gesellschaften, Ausgabe 1913-1914, I. Band, S. 835, Eintrag zur Gelsenkirchener Bergwerks-Aktiengesellschaft.

Hinz, Uta: Gefangen im Großen Krieg. Kriegsgefangenschaft in Deutschland 1914-1921. Essen: Klartext, 2006.

Westfälisches Wirtschaftsarchiv (WWA) Dortmund, Bestand: F 65 – Hüttenwerke Siegerland AG / Hoesch Siegerlandwerke AG, Laufzeit 1826-1979, hier: Werk Hüsten.