Niklas Regenbrecht
10. [September 1939] Heute nacht schreckte ich plötzlich aus dem Schlaf. Was war das? Die Sirenen heulten! „Die verfluchten Engländer!“ Mit diesen Worten sprang ich aus dem Bett. Da hörte ich unten auch schon Stimmen. „Mutti, die Sirene!“ heulte Wolfgang. Verstört griff ich meine Kleider. Den Unterrock und einen Strumpf verlor ich unterwegs. Ich raste mit Volldampf in den Keller. Hu, da war es aber kalt! Bald war die ganze Familie zusammen. Wir setzten uns auf eine Kiste und lauschten angestrengt, ob wir nicht Flugzeuggeräusche hörten. Aber bald kam die Entwarnung und wir krochen selig wieder in die warmen Federn! Ob das wohl Engländer oder Franzosen waren, Polen auf keinen Fall!
Das Zitat stammt aus den Tagebüchern von Renate Brockpähler (1927-1989). Im September 1939, zum Zeitpunkt der Abfassung der obigen Zeilen, war sie 12 Jahre alt. Renate Brockpähler verbrachte ihre Jugend in Münster. Von 1938 bis 1946 schrieb sie regelmäßig in ihr Tagebuch. Dabei berichtete sie über ihren Alltag als Jugendliche zur Zeit des Nationalsozialismus, der zunehmend vom Krieg geprägt wurde. Neben Äußerungen über Schulnoten und Kinobesuche stehen Bemerkungen über Bombenalarm und das Kriegsgeschehen. Auf Berichte über Familienurlaube folgen Passagen, die zeigen, wie die Heranwachsende von nationalsozialistischer Propaganda und Indoktrination geprägt wurde und wie sie diese übernahm.
[August 1939] Hedi verkündigte mir triumpfierend das Abkommen Deutschlands mit der U.D.S.S.R.. Na, da war ich aber platt. „Wir mit Rußland. Heiliger Bimbam, na, da haben wir den Krieg aber schon gewonnen“. Beim Frühstück las ich in der Zeitung die Einzelheiten des Vertrags! 10 Jahre lang gilt er! Mensch, da ärgern sich aber die Franzmänner und Engelländer grün und blau!“ Mittags in den Nachrichten hören wir, daß die Lage immer kritischer wird. Die Polen geißeln die Volksdeutschen, es ist nicht zu beschreiben!
9. November [1939] Heute ist der Tag an dem man an die Toten des 9. November 1923 denken soll. Man dachte aber an etwas anderes, denn es ist etwas schreckliches geschehen. Ein Attentat auf den Führer! Man kann es nicht glauben und doch ist es wahr. Natürlich haben es die Engländer getan! Eine Wut und Empörung liegt über dem deutschen Volk. Das Verbrechen ist mißlungen, dafür danken wir Gott! Unser Führer lebt!! In der Schule hatten wir eine Feier. Heini Sonnenschein gedachte auch das Attentat auf den Führer. Es war eine schöne Feierstunde.
19. Juni [1940] Vor unserer Schule werden jetzt auf dem „Schulrasen“ 2 Deckungsgräben gebaut. Da klettern wir natürlich immer rum, auch machen wir uns Wippen aus den Brettern. Wir haben immer viel Spaß. Eben kommt eine Sondermeldung: Auf dem Straßburger Münster weht die deutsche Flagge! Damit ist auch ein Schandfleck von Versallies wieder ausgelöscht.
Renates Vater, Wilhelm Brockpähler (1894-1980), nimmt in ihren Tagebucheinträgen die Rolle eines großen Vorbildes ein. Er war als Geschäftsführer des Westfälischen Heimatbundes Teil der Gemengelage aus lokalen Regimevertretern, Heimatforschung und nationalsozialistischer Kulturpolitik auf provinzialpolitischer Ebene. Was die Tochter von der Tätigkeit ihres Vaters mitbekam, scheint immer wieder durch.
20. [Oktober 1939] Heute mußte ich die neuen Bezugscheine abholen. Punkt ¼ vor 9 war ich in der Inselschule. Es waren nur 3 Frauen vor mir. Alles klappte. Nachmittags in Musik spielte uns Herr Seubel den Marsch der Deutschen in Polen vor. Das war tofte. Als ich ihn bat, mir das Blatt mitzugeben weil Vati es für den Heimatkalender bräuchte, gab er es mir. Froh fuhr ich nach Hause.
Die Tagebücher gehen mehr als ein Jahr über das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft hinaus. Sie zeigen das „böse Erwachen“, mithin das persönliche Realisieren, auf die Propaganda eines verbrecherischen Regimes hereingefallen zu sein. Das mag auch dazu geführt haben, dass Renate Brockpähler sich in späteren Jahren in der Friedensbewegung engagierte und bei Veranstaltungen in diesem Spektrum aus ihren Tagebüchern vorlas.
[06. Mai 1945] Daß ich jetzt so ruhig darüber schreiben kann, so selbstverständlich! Denn es ist wirklich das erste Mal, daß ich mich mit meiner Zukunft befassen muß, die nach der Niederlage Deutschlands, nicht nach dem Siege steht, an den ich, das merke ich jetzt, immer geglaubt habe. Denn wenn auch da ein Unterschied ist zwischen der begeisterten Patriotin vom Kriegsanfang, die sich übermütige Friedensfeste ausmalte und dem hartnäckigen Verteidiger des Guten an der ganzen Sache, so ist dies doch etwas, an das man nie zu denken wagte und was man in seiner ganzen Tragweite bestimmt noch nicht begreift.
Nach dem Krieg studierte Renate Brockpähler Volkskunde, Musikwissenschaft und Germanistik. Bereits als Studentin arbeitete sie seit 1952 bei der Volkskundlichen Kommission für Westfalen (heute Kommission Alltagskulturforschung für Westfalen). Später übernahm sie in der Kommission die Leitung des Archivs für westfälische Volkskunde (heute Archiv für Alltagskultur in Westfalen). Ihr Nachlass, der neben ihren Tagebüchern eine Vielzahl von persönlichen Dokumenten und Unterlagen ihrer wissenschaftlichen volkskundlichen Forschung enthält, wird heute in eben jenem Archiv verwahrt.