Schädlich oder unentbehrlich? Die Mindener Kriegs- und Domänenkammer und die Debatte um das Laubsammeln in westfälischen Wäldern

27.10.2023 Niklas Regenbrecht

Um die Nutzung des im Herbst herabfallenden Laubes gab es im 18. Jahrhundert mancherorts erbitterte Auseinandersetzungen (Foto: Cantauw).

Sebastian Schröder

Im Herbst fallen die Blätter von den Bäumen. Was heutzutage viele Gartenliebhaber angesichts der damit verbundenen Arbeit verärgert, galt einst als begehrte Ressource. Das Einsammeln des Laubes war historisch keinesfalls für alle Menschen ein lästiges Übel. Und dennoch erhitzte das Blattwerk die Gemüter – auch die der preußischen Kriegs- und Domänenräte in Minden. Denn wer glaubt, das Auflesen der Blätter folge keinen Regeln, der irrt gewaltig. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall, wie ein Blick in die Akten der Kriegs- und Domänenkammer beweist.

So erschienen am 19. Oktober 1739 Heinrich Schulte und Detert Meyer aus der zum mindischen Amt Hausberge gehörenden Bauerschaft Möllbergen (heute ein Ortsteil von Porta Westfalica) bei der Kammer. Im Namen aller dortigen Bauern beschwerten sich beide Landwirte über das Forstamt, das im Auftrag der Kammerverwaltung für die Kontrolle der Forste und Wälder zuständig war. Im Forstamt arbeiteten ein Oberforstmeister, ein Forstschreiber und weitere Aufseher. Als die Möllberger Bauern in den Wald gezogen waren, um Laub und Farn zu sammeln, hatten die Beamten des Forstamtes eingegriffen und dies untersagt. Darüber beklagte sich die ländliche Bevölkerung. Schließlich erachtete sie die Blätter als wichtigen Rohstoff, der als Einstreu für die Stallungen diene. Vor allem in Jahren, in denen Getreide und Stroh schlecht gediehen, besaß das Laub für die Bauern eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Die Ernte des Jahres 1739 hatte wohl nicht den erwünschten Ertrag gebracht. Jedenfalls äußerten die Beschwerdeführer aus Möllbergen ihre „Noht“. Sofern sie tatsächlich auf die Blätter und das Farnkraut verzichten müssten, sei mit schwerwiegenden wirtschaftlichen Folgen zu rechnen. Denn die mit tierischem Kot und Urin vermischte Einstreu nutzte die Landbevölkerung als Dung für ihre Felder. „Unendtbehrlich“ sei deshalb das Sammeln des Laubes, betonten Schulte und Meyer. Warum schritt das Forstamt trotzdem ein? Die Beamten begründeten ihr Eingreifen mit dem Schutz junger Bäume. Durch ihr unachtsames Umherstreifen im Wald würden die Bauern das Wachstum der kleinen Sprösslinge gefährden. Die Kriegs- und Domänenräte vermittelten zwischen beiden Positionen und fanden folgenden Kompromiss: Laub solle nur dort aufgelesen werden, wo keine jungen Triebe wüchsen. Außerdem müsse stets ein Aufseher des Forstamtes die Sammlungen an vorab bestimmten Tagen beaufsichtigen.

Fürs erste ließ sich die Konfliktsituation also klären. Doch auch in den Folgejahren blieb das Problem fehlenden Einstreus und Düngers stets virulent. Etwa wandten sich im Juni 1743 die Vorsteher Jacob David Cramer, Johann Hinrich Kasten und Johann Marten Spreen aus dem mindischen Kirchspiel Wehdem (heute zur Gemeinde Stemwede zählend) an die Kriegs- und Domänenkammer. Das Setzen der Kohlpflanzen stünde unmittelbar bevor. Der Kohl diene einerseits als Viehfutter und andererseits der menschlichen Ernährung, erklärten die Wehdemer. Darüber hinaus beginne man im Herbst mit dem Bestellen des Winterackers. Um gut zu wachsen, bedurften sowohl die Setzlinge als auch das Saatgetreide ausreichend Dünger. Genau das stellte sich allerdings als Problem dar, weil die landesherrlichen Behörden das Stechen von Plaggen und Grassoden untersagt hatten. Um „große Armuth“ und „große Noth“ zu verhüten, baten die Vorsteher „fußfällig“, die Kammer möge ihnen die Erlaubnis zum Sammeln von Laub erteilen. Ins Auge gefasst hatten die Landwirte aus dem Norden des Fürstentums Minden den sogenannten Friedeberg sowie weitere im Besitz der Allgemeinheit befindliche Gehölze. Genau genommen handele es sich um „entbehrliche Örter, da der Auffschlag [also der junge Bewuchs] nicht den geringsten Schad[en] leiden soll“. Die Vorsteher und die Holzaufseher der Gemeinde würden persönlich für etwa entstehende Beschädigungen haften, versicherten Cramer, Kasten und Spreen. Tatsächlich war ihr Gesuch erfolgreich: Die Kriegs- und Domänenkammer gestattete das Laublesen an denjenigen Stellen im Wald, wo keine jungen Sprösslinge gediehen.

Nur kurz sorgte dieser Bescheid aus Minden für Erleichterung in Wehdem. Im Folgejahr schilderten die Landwirte erneut ihre missliche Lage. Zum einen hätten sie kaum zur Fütterung notwendiges Heu einfahren können, sodass sie dem Vieh Stroh zu fressen geben müssten. Dadurch mangele es den Bauern natürlich wiederum an Einstreu und infolgedessen an Mist – das Sammeln von Laub sahen die Wehdemer als rettenden Ausweg an. Nun hätte jedoch der Wind das Blattwerk davongetragen, und zwar ausgerechnet in die Schonungen, wo das Lesen des Laubes verboten war. Also schrieben die Wehdemer erneut den Kriegs- und Domänenräten. Die Mindener Beamten informierten den Oberforstmeister von Lettow, der Bericht erstatten sollte. Leider blieb von Lettow eine Antwort schuldig, sodass der Ausgang unbekannt bleibt.

Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts bestand der Zwiespalt zwischen dem Schutz des Waldes und der Gewinnung von Dungmaterial. Der mit der Privatisierung der sich im Gemeinbesitz befindlichen Marken beauftragte Kommissionsrat Carl Friedrich Schrader zeigte sich als entschiedener Gegner des Einsammelns der Blätter. „Ein wiederholtes Abräumen des Laubes“ mache „den Boden ganz unfähig […], gutes Holz zu produciren. Alle pracktische Forstmänner finden hierin die Ursache, daß in allen Ländern beynahe der größte Theil der Rothbüchenwälder in Nadelholzwälder oder in Birken etc. Wälder verwandelt werden mus, weil solche den Nahrungsstoff für Rothbüchen ganz versagen.“ Die Bauern hielten dagegen: Wenn ihnen die „Samlung des Streulaubs“ untersagt werde, würden ihre „Stetten gänzlich in Verfall“ geraten.

Die geschilderten Kontroversen zeugen eindrücklich davon, wie die Menschen im 18. Jahrhundert ihre Umwelt wahrnahmen und wie sie mit ihr umgingen. Dabei lassen sich verschiedene Normvorstellungen erkennen, die in teils unauflösliche Konflikte zueinander traten. Das Auskommen der Bauern war ausgesprochen knapp. Sie hatten keinerlei Reserven und waren auf die zusätzliche Nutzung der natürlichen Ressourcen angewiesen. Hier hatten sie einzig ihre Bedarfe und nicht längerfristige Entwicklungen, etwa die Entstehung von Buchenwäldern, im Blick. Den Forstämtern ging es ebenso kaum um die Umwelt, sondern vor allem um die wirtschaftlichen Erträge, weil Buchenholz mehr einbrachte als Nadelholz oder Birken. Zudem sollten die Wälder jagdlich nutzbar sein. Es zeigt sich: Die Bestände der preußischen Kriegs- und Domänenkammer liefern wichtige Anhaltspunkte zur Erforschung der Umweltgeschichte in Westfalen.

Quelle: Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen, D 607/Kriegs- und Domänenkammer Minden, Nr. 2989: Nachgesuchte Erlaubnis, das abgefallene Laub in den Gehölzen zur Düngung zu sammeln, 1739–1802.

Die bisherigen Teile der Serie zur Kriegs- und Domänenkammer Minden:

Ein Dickicht voller Alltagskultur: Die preußischen Kriegs- und Domänenkammern in Westfalen im 18. Jahrhundert

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