Leichenschändung und Kannibalismus in Westfalen. Wie mit Hingerichteten in der Vormoderne umgegangen wurde

04.02.2022 Niklas Regenbrecht

Galgen und weitere Hinrichtungsinstrumente auf dem Titelblatt der Brandenburgischen Halsgerichtsordnung von 1516.

Christof Spannhoff

Woher kommt das einst gebräuchliche Schimpfwort „Galgendieb“? In den Wörterbüchern des 19. Jahrhunderts kann man lesen, dass damit ein Dieb bezeichnet worden sei, der das Erhängen am Galgen als Strafe verdiene. Aber ist das die richtige Erklärung? Die Quellen aus der Zeit, als Schwerverbrecher noch aufgeknüpft wurden, lassen ein anderes Motiv dieser Schmähbezeichnung erkennen.

Im Winter 1694/95 wurde auf dem Holperdorper Schultenhof Varwig im Kirchspiel Lienen in der Grafschaft Tecklenburg Kindtaufe gefeiert. Dazu waren auch Verwandte aus dem gut 20 Kilometer nordöstlich gelegenen Westerkappeln eingeladen. Als sich diese nach ausgiebiger Feier zu Fuß auf den Heimweg machten und am Anwesen des Bauern Sudenfeld im benachbarten Hagen (am Teutoburger Wald) im Hochstift Osnabrück vorüberkamen, begannen sie mit „einem grausamen Geschrey, rufend mit voller Stimme ‚Ihr Hagenschen Galgendiebe, habt ihr nicht dem Gograffen zu Tecklenburg einen Dieb aus dem Galgen gestohlen?‘“ Gemeint war damit der Hinrichtungsplatz auf dem Galgenknapp im benachbarten Kirchspiel Lengerich, der an der Straße nach Osnabrück und etwa 4,5 Kilometer vom Hof Sudenfeld entfernt lag. Und dieser Vorwurf scheint nicht aus der Luft gegriffen gewesen zu sein. Denn 1695 erhob der junge Sudenfeld Klage vor dem Brüchtengericht, Werner Tecklenburg habe ihn als „Galgendieb“ bezichtigt und behauptet, sein verstorbener Vater sei mit dabei gewesen, als sie den Leichnam vom Galgen abgenommen hätten. Hier ist ein „Galgendieb“ also die Beschimpfung für jemanden, der einen Leichnam von der Richtstätte gestohlen hatte.

1593 ist in einem Gerichtsprotokoll dokumentiert, dass auf dem Hinrichtungsplatz auf der Voßheide an der Grenze zwischen Lienen und Glane (heute Ortsteil von Bad Iburg) „einer geköpft, der Kopf auff eine Säulen gesetzt und über die dritte Nacht heimblich widerumb weggenommen“ worden sei. Auch in diesem Fall wurde der Leichnam bzw. ein Teil von ihm unrechtmäßigerweise entwendet.

Aber warum wurden die toten Körper der gerichteten Verbrecher, die als abschreckendes Beispiel am Galgen oder auf dem Rad verbleiben sollten, in Nacht-und-Nebel-Aktionen vom Richtplatz weggeschafft? Zum einen werden es sicherlich Verwandte und Freunde der Verurteilten gewesen sein, die ihnen ein würdigeres Begräbnis zuteilwerden lassen wollten. Zum anderen schrieben die Zeitgenossen aber den toten Körpern von hingerichteten Menschen auch besondere Kräfte zu. So meinte man, das als „Armesünderschmalz“ bezeichnete Fett von Gehängten habe eine heilende Wirkung. Diese Heilkraft leitete sich aus der Tatsache ab, dass die zum Tode Verurteilten bei gesunder Konstitution und ohne Krankheit starben. Zudem wurden die Leichen auf dem Richtplatz von Sonne und Mond beschienen, wodurch sie sich „gewaltig influierten“, wie der Historiker Richard van Dülmen (1937–2004) ausführt.

Selbst der Arzt und Naturforscher Theophrastus Bombast von Hohenheim, genannt Paracelsus (1493/94–1541), war der Ansicht, dass, „wenn die Ärzte und sonstige wüssten, was mit dieser mumia [= Leiche] vorzunehmen sei oder wozu sie nützt, es würde kein Übeltäter über drei Tage am Galgen oder auf dem Rad liegen bleiben, sondern, wo es anders möglich wäre, hinweggenommen werden [Übersetzung aus dem Lateinischen].“ Der in Bad Salzuflen geborene Pharmakologe sowie Frankfurter Stadt- und hessischer Hofarzt Johann Schröder (1600–1664) kannte sogar mehrere Rezepte, bei denen Menschenfleisch verarbeitet wurde. Ausgelassenes Menschenfett (Axungiae hominis) war darüber hinaus im 17. Jahrhundert ein Apothekenartikel, etwa 1616 in der Osnabrücker Hofapotheke zu Iburg (Bad Iburg). Bis in das 19. Jahrhundert hinein versprach man sich auch vom Blut enthaupteter Mörder Linderung von bestimmten Gebrechen, z.B. der Epilepsie. Der rote Lebenssaft wurde entweder getrunken, man tunkte Brotstücke hinein und aß diese oder benetzte Tücher damit, um eine Art Talisman zu erhalten. Mit der Abschaffung des öffentlichen Vollzugs der Todesstrafe endeten auch diese aus heutiger Perspektive makabren Praktiken.

 

Literatur

Jobst Auler (Hrsg.), Richtstättenarchäologie, 3 Bde., Dormagen 2008–2012.

Richard van Dülmen, Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit, 5. Aufl., München 2010.

Rainer Rottmann, Tod am Stalbrink. Vollzug der Todesstrafe im Amt Iburg 1500 bis 1817. Ein Beitrag zur Justizgeschichte des Osnabrücker Landes, Hagen am Teutoburger Wald 2021.