Der „billige Jakob“, Kauf per Handschlag und ein Stelldichein von Tausenden

11.09.2020 Kathrin Schulte

Der Mariä-Geburts-Markt in Telgte

Dörthe Gruttmann

Eigentlich wäre es nun wieder soweit: Vom 11. bis zum 15. September 2020 hätte der traditionsreiche Mariä-Geburts-Markt in Telgte stattfinden sollen – wenn denn nicht in diesem Jahr die Corona-Pandemie das Abhalten von Großveranstaltungen verhindert hätte.

„1616 erhält der schon zu dieser Zeit weit und breit bekannte jährliche Telgter Markt seinen festen Platz im Kalender. Das herbstliche Großereignis wird auch heute noch jeweils im September am 1. oder 2. Dienstag nach dem Fest Mariä Geburt gefeiert,“ heißt es noch in der Marktbroschüre von 1975 (S. 42).

Der jahrhundertealte Telgter Mariä-Geburts-Markt hat den Charakter eines Volksfestes, ist aber ebenso ein bedeutender Markt: Er besteht aus einer Kirmes, einem Kram- und Reitmarkt, einem Markt für landwirtschaftliche Geräte, einem Reit- und Springturnier seit 1955 sowie aus dem Markt für Pferde und weitere Tiere wie Rinder, Schafe, Schweine und Kleintiere. Die Gewichtung der einzelnen Bestandteile hat sich hingegen im Laufe der Zeit wiederholt geändert. So heißt es beispielsweise in der Marktbroschüre von 1952: „Während noch um die Jahrhundertwende auf dem Mariä-Geburts-Markt neben Pferden stets auch Rindvieh, Schweine und Schafe in stattlicher Anzahl aufgetrieben waren, ist er nach und nach immer mehr zu einem ausgesprochenen Pferde- und Fohlenmarkt geworden, der als der bedeutendste in Westdeutschland gilt“ (S. 5f.).

Das Einzugsgebiet von Händlern und Züchtern war Anfang der 1950er Jahre recht groß: Es reichte von Süddeutschland, über das Osnabrücker Land bis hin zum Oldenburger- und Emsland und schloss selbst das angrenzende Luxemburg und die Niederlande mit ein. Die Anzahl der aufgetriebenen Tiere war allerdings immer von allgemeinen Entwicklungen wie Tierseuchen oder Kriegszeiten sowie Trends der Tierhaltung und -verarbeitung abhängig. So sollen 1859 insgesamt 510 Pferde, 395 Stück Rindvieh, 502 Schweine und 1030 Schafe zum Markt für den Verkauf gebracht worden sein, 1865 die Rekordzahl von 1.670 Pferden. Anders sah es während des Zweiten Weltkriegs aus: 1943 weiß der Telgter Bürgermeister zu berichten: „Bereits im vorigen Jahre zeigte sich, dass ein Auftrieb an Pferden überhaupt nicht mehr stattfand. Die wenigen Pferde bzw. Fohlen, die noch nach Telgte gebracht wurden, sind bereits am Tage vor dem Markt von den Telgter Händlern aufgekauft und direkt ausserhalb des Marktes auch verhandelt worden, sodass ein Marktauftrieb überhaupt nicht mehr vorhanden war“ (Notiz des Bürgermeisters an den Gemeinderat v. 12.07.1943, Stadtarchiv Telgte, Best. C, Nr. 2462). Nach dem Krieg schienen dann wieder um die 1.000 Pferde auf dem Markt zum Verkauf gestanden zu haben. Traditionell wird – bis heute – der Kauf eines Pferdes per Handschlag abgeschlossen.

Die zum Verkauf stehenden Pferde wurden an aufgespannten Leinen auf einer großen Wiese festgebunden, die Kaufinteressenten abgehen und sich somit die Pferde genauer ansehen konnten (Archiv für Alltagskultur, Inv.-Nr.: 2011.02051).

Nicht nur für Erwachsene, auch für Kinder verspricht das jährliche Ereignis Abwechslung und Spaß, in erster Linie durch den Besuch der Kirmes. 1943 festgehaltene Erinnerungen eines Telgters an Kinderzeiten dokumentieren hierbei auch den Einfallsreichtum der Kleinen: „Wir durften helfen, wenn die Zelte aufgebaut wurden, wir hielten die Pferde oder paßten auf, daß nichts gestohlen wurde. Dafür durften wir dann an den Kirmestagen ein paarmal umsonst fahren.“

Der Kram- und der landwirtschaftliche Markt lockten ebenfalls viele Besucher an. Ob Bärenfett gegen Rheuma und Fleckenwasser in den 1960er Jahren oder der „billige Jakob“, der schon in den 1930er Jahren lauthals seine günstigen Waren wie Obst und Gemüse anbot und bis heute auf dem Markt zu finden ist – das Angebot war stets vielfältig und umfangreich. Während in früheren Zeiten die Bäuerinnen und Bauern der näheren Umgebung ihren Bedarf an Haus- und landwirtschaftlichen Mitteln wie Küchengeschirr in Zinn und Steingut, Korbwaren, Mistgabeln, Sensen, Harken, Wannen, Pferdegeschirr und vielem mehr auf dem Markt abdeckten, hat sich im 20. Jahrhundert die Motorisierung der landwirtschaftlichen Geräte auch in Telgte immer stärker sichtbar gemacht. Nun wurden vermehrt Mähdrescher, Schlepper, Traktoren und andere Fahrzeuge angeboten. Auch in aktuellen Zeiten gibt es noch eine Maschinenausstellung.

Für die Stadt Telgte stellt der Mariä-Geburts-Markt neben einem wichtigen wirtschaftlichen Standortfaktor eine bedeutende Touristenattraktion und ein Heimatfest dar: Bereits 1948 wurden etwa 13.500 Eintrittskarten verkauft, 1955 waren schätzungsweise 30.000 Menschen für diesen Anlass in der Kleinstadt und 1964 zählte man gar 35.000 Besucher und 5.500 PKW, deren Unterbringung ein immer größeres Problem darstellte.

Tausende Besucherinnen und Besucher drängen sich jährlich auf den Wiesen, wo das Markttreiben stattfindet, wie hier 1979 (Archiv für Alltagskultur, Inv.-Nr.: 2011.02054).

In einem 1948 erschienen Zeitungsbericht werden auch traurige Erkenntnisse im Hinblick auf den Markt benannt, der sonst in einem positivem Licht steht: „Bis 1933 stellten auch die Zigeuner als besonders gerissene Pferdehändler einen großen Teil der Aufkäufer. Mehrere Tage vor dem Markt trafen die braunen Pußtasöhne in großen Wagenzügen ein und lagerten an der Landstraße nach Ostbevern auf dem noch heute Zigeunerplatz genannten Gelände. […] Wie viele mögen Hitlers brutalem Haß […] entronnen sein?“ (Neuer Westf. Kurier v. 05.09.1948). Die Wortwahl verdeutlicht darüber hinaus noch eine damals vorherrschende Stigmatisierung von Sinti und Roma. Nicht nur in Telgte, auch von anderen Märkten, wie dem Pferdemarkt vor Beginn der Cranger Kirmes in Herne, waren die als eine „Attraktion“ geltenden Menschen weitestgehend verschwunden.

Zwar hat sich das, was auf den Märkten verkauft wird, im Laufe der Zeit geändert und auch die Fahrgeschäfte der Kirmes entsprechen nicht mehr denen vor 100 Jahren. Geblieben ist jedoch der Volksfestcharakter, ein Stelldichein über das Münsterland hinaus.