Ins „Gräßliche und Unangenehme ausgeartet“. Das Martinsfest zwischen Heische- und Umzugsbrauch

10.11.2023 Marcel Brüntrup

Christiane Cantauw

Rituale werden oft als Konstanten wahrgenommen, dabei erweisen sie sich – über Jahrzehnte oder Jahrhunderte hinweg betrachtet – als höchst veränderlich. Sie verdanken ihre Weiterexistenz nicht selten der fortwährenden Anpassung an sich verändernde Lebensverhältnisse und Werthaltungen einzelner Milieus.

Das Heischen um Äpfel und Nüsse am Martinstag wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts vielerorts durch Martinszüge abgelöst, Borgholzhausen, um 1920. (Archiv für Alltagskultur, Sign. 1988.02467)

Aus allen Jahrhunderten finden sich Belege dazu, dass manche Bräuche nicht stets von allen geschätzt wurden und werden. Diesem Sachverhalt widmet sich eine Rubrik in unserem Magazin Graugold, die mit „Unbrauchbar“ übertitelt ist. Da finden sich beispielsweise Berichte über Gebehochzeiten, die mal als Anlass für das Brautpaar entlastende kreditorische Geldgaben von der Obrigkeit befürwortet, mal als ausufernde Verschwendungsorgien verboten wurden, oder über Hirten, deren Tuten und Blasen mit Hirtenhörnern als musikalischer Beitrag zur Weihnachtszeit um die Wende zum 19. Jahrhundert nicht mehr auf allgemeine Zustimmung traf.

Auch die mit dem Martinstag verbundenen Rituale wurden im Laufe der Jahrhunderte immer wieder an die Lebensverhältnisse angepasst. Dass dieser 11. November überhaupt mit so vielen Ritualen verbunden war, liegt wohl vornehmlich an seiner Stellung im Jahreslauf. Nach Abschluss der Erntearbeiten bot sich der Termin für einen Gesindewechsel an. Auch waren Mitte November vielerorts Pacht- und Rentenzahlungen fällig. Wie an anderen Tagen im Jahr auch (etwa Petri Stuhlfeier oder Lütke Fastnacht) verband sich mit diesem Termin ein Heischebrauch, bei dem Gruppen von Kindern von Tür zu Tür gingen, ein Lied sangen und dafür von den Hausbewohner:innen als Gegengabe Äpfel, Nüsse oder andere Lebensmittel erhielten.

Das als Gewohnheitsrecht geltende Heischen stieß jedoch seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zunehmend auf Kritik. In einem Leserbrief in der Westfälischen Zeitung vom 15.11.1902 beklagt sich ein anonymer Abonnent darüber, dass „der einst schöne Brauch des Martinsheischens“ „ins Gräßliche und Unangenehme ausgeartet“ sei. Die Schuljugend unterstreiche ihre Forderungen durch „Johlerei und Schreierei“; letztlich gebe man ihnen das Gewünschte, „um die wilde Horde nur loszuwerden“. Bereits ein Jahr zuvor hatte es in der Schwerter Zeitung vom 11.11.1901 geheißen, die „lachende Harmlosigkeit“ beim Heischen am Martinstag sei in „Übermut und direkte Belästigung“ ausgeartet.  

Kritik am Heischebrauch übten vor allem Geschäftsinhaber in kleineren und größeren Städten, die sich der zunehmend selbstbewusst auftretenden Schuljugend nur schlecht erwehren konnten. Als ein Ergebnis der ungeheuren Bevölkerungszunahme (zwischen 1871 und 1910 wuchs die Bevölkerung in Deutschland von 41 auf 65 Millionen), der Hochindustrialisierung und der Verstädterung (um 1900 lebten nur noch rund 50 % der Menschen auf dem Land, 21,3 % dagegen in Großstädten über 100.000 Einwohnern) hatten soziale Bindungen auch in den kleineren Städten abgenommen. Das für den Heischebrauch verbindliche Geben und Nehmen fand nun zunehmend in einem anonymen Kontext statt und nicht – wie zuvor – in einem von den sozialen Verbindlichkeiten eines gutnachbarschaftlichen Verhältnisses geprägten Umfeld.

Da die Heischegänge allerdings nicht organisiert waren, war das Treiben durch obrigkeitliche Verbote nur schwer in den Griff zu bekommen. Der oben genannte Leserbriefschreiber forderte deshalb, dass die Lehrer die Schuljugend von solchem Treiben abhalten sollten. An anderer Stelle wurde von den Eltern ein Einschreiten gefordert.

Martinumzug in Vreden-Lünten, 1952 (Archiv für Alltagskultur, Sign.: 0000.01988, Foto: Klose)

Abhilfe schuf letztlich eine grundlegend veränderte Ritualpraxis, die im Rheinland bereits üblich war: Organisierte Fackelzüge wurden an die Stelle der Heischegänge gesetzt. Die den Kindern bekannten Martinslieder konnten in diese neue Form problemlos eingepasst werden. Sie wurden nun nicht mehr vor den Türen, sondern – begleitet von Musikkapellen – während des Umzugs gesungen. Ein solcher Martinsumzug fand erstmals 1894 in Düsseldorf statt. 1910 löste auch in Bocholt ein Laternenumzug das Martinsheischen ab. Weitere Städte und Gemeinden zunächst im Rheinland, aber zunehmend auch in Westfalen-Lippe folgten.

Die Lehrerschaft spielte bei der Einführung und Durchführung von Martinszügen eine wichtige Rolle (Zeitungsannonce Bocholt 1909 (Archiv für Alltagskultur, Sign. 1994.02883))

Initiiert wurden die Umzüge tatsächlich oft von Lehrer:innen und Eltern, teils auch von Pfarrgeistlichen, wie aus Berichten für das Archiv für westfälische Volkskunde (heute Alltagskulturarchiv) hervorgeht: So heißt es 1958 aus Atteln (heute Stadtteil von Lichtenau), dass der Martinszug „von Lehrpersonen geleitet“ werde (MS 1409), und aus Eggerode (heute Ortsteil von Schöppingen), dass sich „weibliche Lehrpersonen“ der Sache angenommen hätten (MS 3188). In Dortmund war es die Hausfrau und Mutter Käthe Kaufhold, die 1924 für ihre Kinder einen Martinszug im eigenen Garten an der Weddigenstraße 11 in der Dortmunder Gartenstadt ausrichtete. Im Jahr darauf war das Interesse an dem Umzug bereits so groß, dass Frau Kaufhold mit den Kindern auf die umliegenden Straßen auswich.

Ebenso wie Käthe Kaufhold waren es vielfach Zugezogene aus dem Rheinland, die den Umzugsbrauch in Westfalen bekannt machten. So führte in Bork (heute ein Stadtteil von Selm) ein aus dem Rheinland stammender Amtsbaumeister namens Glaser 1924 den Martinsumzug ein und in Westerholt (heute ein Stadtteil von Herten) war es ein neuer Kaplan, der vom Niederrhein stammte und um 1950 herum den Brauch bekannt machte.

Mädchen mit Runkellaterne, Vreden-Lünten, 1952 (Archiv für Alltagskultur, Sign. 0000.01991, Foto: Klose)

Die Publikumswirksamkeit der Martinsumzüge weckte bald auch andere Begehrlichkeiten: Für Bork, Brilon oder Niederschelderhütte (Siegerland) lässt sich belegen, dass sich auch die Hitlerjugend oder die NS-Organisation Kraft durch Freude an dem Umzugsbrauch beteiligten und diesen für ihre Interessen in den Dienst nahmen. So heißt es in der Lokalpresse für Bork 1936: „Die Borker Martinsgesellschaft wird auch in diesem Jahr Hand in Hand mit der NS-Gemeinschaft ‚Kraft durch Freude‘ alles aufbieten, um dem Martinsfest den gewünschten Erfolg zu sichern.“ Im Laufe von zwölf Jahren hatte sich der Kinder-Brauch in Bork zu einem Event entwickelt, das auch für die umwohnende Bevölkerung von Interesse war. Lokale nationalsozialistische Gruppen und Vereinigungen nutzten das, um Sammlungen für das Winterhilfswerk und die NS-Volkswohlfahrt durchzuführen, und durch die Verwendung von NS-Symbolen auf den Laternen beim Umzug auf sich aufmerksam zu machen. Besonders interessant für die politischen Akteure waren die Veranstaltungen mit großer Breitenwirkung, über die gegebenenfalls auch live im Radio berichtet wurde, so wie über den Martinszug 1935 in Brilon. Dort trugen viele Kinder Laternen aus Runkelrüben, in die Runen geschnitzt waren; die schönsten Runkellaternen wurden am Ende der Veranstaltung prämiert.

Derartige Vereinnahmungen führten bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dazu, dass das Martinsfest von einem Fest der Kinder zu einem Fest für Kinder wurde. Die ungeregelten Heischegänge machten einem zunehmend durchgetakteten, professionell organisierten städtisch-bürgerlichen Event Platz, das sich mit bereits bekannten Brauchelementen – etwa Umzug, Laternen, Martinsliedern, szenischer Darstellung – in die jahreszeitliche Festkultur einfügte.

Literatur:

Happ, Martin (2006): Alte und neue Bilder vom Heiligen Martin. Brauchtum und Gebrauch seit dem 19. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien.

Sauermann, Dietmar (1967): Neuzeitliche Formen des Martinsbrauches in Westfalen. In: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde, Bd. XIV, S. 42 – 67.

Weber-Kellermann, Ingeborg (1985): Saure Wochen – frohe Feste. Fest und Alltag in der Sprache der Bräuche. München/Luzern.

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Schlagworte: Christiane Cantauw · Brauch