Sebastian Schröder
Wer heutzutage eine christliche Kirche aufsucht, um an einem Gottesdienst teilzunehmen, der wird meistens kaum Probleme haben, einen Platz zu finden. Außerdem darf man seinen Sitz frei wählen – moderne Kirchengebäude sind „freisitzig“. Diese Freiheit ist allerdings erst eine jüngere Errungenschaft. Bis teilweise in das 20. Jahrhundert hinein gab es feste „Kirchenstühle“, die man für sich und seine Familie käuflich erwerben musste. Die Sitzplätze im Gotteshaus waren ein begehrtes Gut. Dabei lassen sich deutliche Unterschiede erkennen. Besonders wohlbetuchte Gläubige kauften einen Kirchenstuhl möglichst nahe am Altar. Diese Position galt als besonders wertvoll – selbst nach der Reformation in evangelisch gewordenen Gemeinden. Wer dort dem Gottesdienst beiwohnte, konnte der gesamten Gemeinde seinen herausgehobenen Status vor Augen führen. Ärmere Personen oder gesellschaftlich weniger geachtete Gruppen mussten mit Sitzen im hinteren Teil der Kirche oder in einer hinteren Reihe vorliebnehmen. Strikt getrennt waren darüber hinaus die Plätze für Männer und Frauen (erstere links vom Altar, letztere rechts) sowie häufig für das Gesinde. Wohl niemand der frühneuzeitlichen Zeitgenossen hätte deshalb gewagt, mit spielerischer Leichtigkeit das Gotteshaus zu betreten und unbedacht einen „rechten Platz“ zu suchen – denn dieser war gesellschaftlich und gewohnheitsrechtlich bestimmten Personen vorbehalten. Diese Normen mussten auf jeden Fall beachtet werden, andernfalls konnten mitunter schwerwiegende Konflikte entstehen, wie ein Blick in die Protokolle der Ratsgerichtsbarkeit der Kleinstadt Lübbecke beweisen.
Der Ort liegt am Nordhang des Wiehengebirges im Westen des heutigen Kreises Minden-Lübbecke. Ende des 13. Jahrhunderts hatte Lübbecke Stadtrechte vom Mindener Bischof erhalten. Seitdem existierte ein Ratskollegium, das unter anderem auch die Aufgabe besaß, in strittigen Angelegenheiten der Bürger Recht zu sprechen und Auseinandersetzungen zu schlichten. Die umfangreichen Aufzeichnungen darüber haben sich für die Jahre 1628 bis 1653 erhalten. Mehrmals wöchentlich versammelten sich die Ratsherren im Rathaus am Markt. Vor die „Lübbecker Männer“ traten sodann klagende Bürger, die ihre Anliegen vorbrachten. So machten sich am 30. März 1634 Hinrich Kramer und Hartke Schnellen in die städtische Ratsstube auf. Kramer klagte, dass ihm Schnellen seinen Kirchenstuhl streitig machen würde. Er könne jedoch beweisen, dass der fragliche Platz in der Lübbecker St. Andreas-Kirche, die mit der Reformation evangelisch geworden war, ein Erbe seiner Ehefrau gewesen sei. Diese habe den Sitz 19 Jahre zuvor als Abfindung aus dem elterlichen Vermögen erhalten. Ihre Miterben hätten dazu ihre Einwilligung erteilt; insofern sei das Begehren Schnellens – wohl mit Kramers Ehefrau entfernt verwandt – abzuweisen. Zwar hätte sie das ebenfalls ihr zugesprochene Haus, zu dem der Kirchenstuhl ursprünglich zählte, an den „Buchbinder“ veräußert, explizit aber den Platz im Gotteshaus davon ausgenommen. Schnellen protestierte gegen die Aussage seines Kontrahenten und bat darum, weitere Zeugen vorzuladen. Der Rat folgte dieser Bitte und nannte den streitenden Parteien einen neuen Verhandlungstermin.