„Mit dem Auto ins Grüne“

10.08.2021 Dorothee Jahnke

Aussichtspunkte wie dieser konnten nur von Bus- oder Individualreisenden per PKW, Rad oder Pedes angesteuert werden. Foto: Theo Klein-Happe, Archiv für Alltagskultur, Inv.-Nr. 2014.01343.

Christiane Cantauw

Ende der 1960er Jahre brachte es allein Nordrhein-Westfalen auf stolze 787 Autobahnkilometer – so war es jedenfalls dem Reiseführer „Mit dem Auto ins Grüne“ zu entnehmen, der 1969 vom Minister für Wohnungsbau und Öffentliche Arbeiten des Landes Nordrhein-Westfalen, Hermann Kohlhase, herausgegeben wurde. Ziel des 48seitigen Heftchens aus dem Verlagsprogramm des in Duisburg beheimateten Mercator-Verlags Gert Wohlfahrt war es, den „naturentfremdete(n) Stadtbürgern“ (S. 3) den Weg zu den 13 Naturparks in NRW zu weisen.

Neben der Beschreibung jedes Naturparks bietet der Führer Hinweise zur jeweiligen Anfahrt sowohl über Landstraßen als auch über die Autobahn, so dass die Auto-motorisierte Leserschaft diejenigen Räume, „in denen wir gezwungenermaßen leben und arbeiten“ (S. 3) – so der Minister im Vorwort –, auf froher Fahrt ins Grüne verlassen konnte.

Der Autoreiseführer war in den 1960er und 1970er Jahren kein Einzelfall. Zum Preis von DM 5,60 wurden im Autowanderer-Verlag Günter Halfar in Babenhausen bei Bielefeld seit 1967 unter dem Reihentitel „Der Autowanderer“ beispielsweise eine ganze Serie von Reiseführern veröffentlicht, die – so das Vorwort von Band 5: Münsterland · Westfälisches Industriegebiet · Emsland – „ein treuer Begleiter“ sein „und ein ständiges Plätzchen im Handschuhfach“ finden sollten. 

Ob Berghänge im Biggetal oder Fachwerkhäuser in Lemgo: die schnell wachsende Gemeinschaft der automobilen Deutschen war seit den 1960er Jahren zunehmend omnipräsent. Foto: Gustav Hildebrand, Archiv für Alltagskultur, Inv.-Nr. 2007.01347.

„Das praktische Reisebuch“ von Bernd Böhle aus dem Bertelsmann-Verlag, 1954 erschienen und 1963 bereits in 27., neu bearbeiteter Auflage gedruckt, fasst den Trend zum Autoreiseverkehr unter der Überschrift „Am Motor hängt das Herz“ zusammen. Dort heißt es: „Deutschland ist das wahre Reiseland für den Autoenthusiasten. Auf den Straßen begegnen uns die Fahrzeuge mit Kennummern aus aller Herren Länder. Sie stehen wie selbstverständlich im Schatten ehrwürdiger Dome und halten Rast in den Höfen alter Burgen und Schlösser. Wir begegnen ihnen am Strand des Meeres und der Seen, und sie stehen versteckt auf einer einsamen Schneise des Waldes. Sie ziehen die Krümmungen der Flüsse nach und vereinigen sich zu einer großen Familie da und dort im Camping.“ (S. 41 f.).

Der hier bereits allgegenwärtige PKW war als Reiseverkehrsmittel in den 1950er Jahren noch relativ neu. Fuß-, Schiffs- und Eisenbahnreisen blickten zu dieser Zeit schon auf eine wesentlich längere Tradition zurück, während Reisen mit dem Pferd und/oder der Kutsche im 20. Jahrhundert keine Erwähnung mehr fanden. Dass das Auto bis Mitte der 1950er Jahre im Reiseverkehr eine verhältnismäßig geringe Rolle spielte, lag in erster Linie an seiner geringen Verbreitung: 1950 waren in der Bundesrepublik Deutschland gerade einmal 518.000 PKW zugelassen. Nur drei Jahre später hatte sich die Zahl der Autos auf Deutschlands Straßen aber bereits mehr als verdoppelt und 1959 waren erstmals mehr PKW als Motorräder unterwegs. Bei 3,5 Millionen zugelassenen Autos nannte 1960 immerhin etwa jeder 20. Deutsche ein Auto sein Eigen.

Im Vergleich zu den etwa 67 Millionen PKW, die 2020 in Deutschland angemeldet waren, sind solche Zahlen natürlich verschwindend gering und machen die damalige Freude über die Möglichkeiten nachvollziehbar, die der Individualverkehr den Reisenden bot: Städte, Länder, Berge, Landschaften, Sehenswürdigkeiten und vieles mehr waren – laut Bertelsmann-Reisebuch – „mit Leichtigkeit“, „ohne daß wir uns selbst anzustrengen brauchen“ erreichbar geworden. Sie zogen am Autofenster vorbei und gaben dem (meist männlichen) Fahrer in Form einer hohen Zahl gefahrener Kilometer das Gefühl „ein tüchtiger Mensch zu sein“ (S. 42). Ob dies jedoch eine sinnvolle Art des Reisens war, wird hier bereits in Frage gestellt, seien die Erlebnisse und Erfahrungen bei schneller Fahrt doch allzu oberflächlich.

Und eine weitere Negativseite der sich potenzierenden Motorisierung machte sich zunehmend bemerkbar: Bewegungsmangel. Höchste Zeit also – so die Broschüre „Mit dem Auto ins Grüne –, „die des Laufens entwöhnte(n) autofahrende(n) Großstädter (…) durch kurze Rundwege (…) wieder den Freuden des Wanderns“ (S. 5) zuzuführen!