„Wir glauben, es vom Bus erspäht zu haben.“ Mit Hedwig Kruse quer durch Norwegen

13.08.2021 Dorothee Jahnke

Reisetagebuch samt Dias und Reiseführer aus dem Bestand Kruse. Foto: Andreas Floyd.

Andreas Floyd

 

Dr. Hedwig Kruse und ihre Romreisen sind auf diesem Blog bereits beschrieben worden. Der Bestand Kruse im Archiv für Alltagskultur in Westfalen beinhaltet aber noch weiteres Quellenmaterial zu anderen Reisen, das spannende Erkenntnisse über Reiseziele und Reiseformen vor 50 Jahren beinhaltet. Das Reiseziel, das Hedwig Kruse 1962 ansteuerte, erscheint auf den ersten Blick für die kunst- und kirchengeschichtlich interessierte Osnabrücker Handelsschullehrerin ungewöhnlich: Vom 30. Juni bis zum 18. Juli 1962 begab sie sich auf eine Gruppenreise durch Norwegen.
Da Kruse Reisen in erster Linie unter einem Bildungsaspekt sieht, wollte sie die gesammelten Informationen und Eindrücke festhalten. Dafür legte sie eigens ein maschinengeschriebenes Reisetagebuch an. Das dunkelgrüne Buch ist 25,5 cm lang, 21 cm breit und 4 cm hoch. Auf 87 Seiten wird das Wichtigste jedes Tages schriftlich festgehalten und mit Bildern, Postkarten Broschüren, Flyern oder Collagen, ja sogar einem Herbarbeleg aus der Telemark (S. 17), ausgeschmückt und verziert. Der Bestand enthält außerdem einen „Polyglott Reiseführer Norwegen“ aus dem Jahre 1961 sowie 134 selbst gefertigte und 14 gekaufte Dias.

Die Reise beginnt am 30. Juni 1962 in Cloppenburg. Über Flensburg erreicht der Reisebus am nächsten Tag schließlich Dänemark. Am 2. Juni gelangt Kruse samt Reisegruppe mit der Fähre „Cort Adeler“ an die norwegische Hafenstadt Larvik (S. 1-4). In Oslo stößt die Reiseleiterin und Dolmetscherin Evelyne Toverud zur Gruppe (S. 5). Über die anderen Teilnehmenden der Reise berichtet Kruse kaum - lediglich drei Frauen werden namentlich erwähnt. Auch auf den Dias finden sich selten einmal Aufnahmen der Mitreisenden. In Oslo beginnt die Rundfahrt durch Norwegen, während der die Gruppe immer wieder auch Fähren nutzt. Übernachtet wird in ausgewählten Hotels. Westwärts geht es nach Notodden und Bergen. Über Voss und Stalheim entlang der Fjorde und enger Straßen erreicht die Gruppe über Molde und Kristiansund im Norden Trondheim. Durch das Gudbrandstal und Lillehammer geht es schließlich südöstlich zurück nach Oslo. In Drammen nimmt die Gruppe am 18. Juli 1962 schließlich „ihr letztes Quartier auf norwegischem Boden ein“ (S. 79).

Einen wichtigen thematischen Schwerpunkt der Gruppenreise bildete offenbar die (Kunst-)Geschichte, Architektur und Gegenwart der katholischen Diasporakirche in Norwegen. Die Reisetage der Gruppe sind mit Stadtrundfahrten, Führungen, Museums- und Kirchenbesuchen gefüllt.  Ihre Eindrücke von der Landschaft, dem norwegischen Alltagsleben, vor allem aber von den einzelnen Gotteshäusern notiert Kruse in ihrem Reisetagebuch. In den 16 Tagen, die die Gruppe auf norwegischem Boden verbrachte, wurden neben anderen Sehenswürdigkeiten insgesamt über 20 Kirchen besucht (teils auch Gottesdienste).  

Das persönliche Highlight der Reise ist für Hedwig Kruse zweifellos in Trondheim zu finden: „Die nun folgende Besichtigung des Domes war für mich das größte Ereignis“ (S. 61). Gemeint ist hier der lutherische Nidarosdom, dem Kruse sechs Bilder und sechs Seiten widmet.  

Postkarte der St. Olavskapelle in Hedwig Kruses Reisetagebuch. Foto: Andreas Floyd.

Neben der Landschaft nehmen die Stabkirchen visuell den größten Platz im Reisetagebuch ein. Gleich das erste Bild in dem Tagebuch zeigt die Stabkirche Gol des „Freiluft-Volksmuseum“ in Oslo (S. 5). Im zusammenfassenden „Rückblick“ am Ende des Reisetagebuchs (S. 80-87) werden die Fjorde und Wasserfälle auf jeweils einer Seite gewürdigt, dem Thema „Stabkirchen“ sind wiederrum ganze fünf Seiten gewidmet. Kruse hält auf der letzten Seite fest, dass es in Norwegen ehemals etwa 300 Stabkirchen gegeben hatte, während es in den 1960er Jahren nur noch 27 gewesen seien (S. 86). „Diese werden wie ein wertvoller Schatz gehütet“ (ebd.).

Eine Stabkirche schmückt auch ein kleines Brieflein, das in das Reisetagebuch eigeklebt wurde und auf dessen Rückseite eine Predigt zur Beendigung der Kirchentrennung steht (S. 75). Ein deutscher Pfarrer der „kath. Kapelle in Lillehammer“ klärt in dieser Predigt über „Mühen und Schwierigkeiten, die sich ihm bieten“ auf (ebd.). In den 1960er Jahren scheinen Deutsche noch einen wichtigen Teil der Migrations- und Diasporakirche ausgemacht zu haben. Im Spendenbrief bedankt sich der Autor bei den „deutschen Wohltätern“ für den „Bau einer Diasporakirche in Lillehammer“. Am 8. Juli feiert die Reisegruppe die „hl. Messe“ in der katholischen Kirche von Bergen. Kruse notiert zu diesem Gottesdienst: „Weil wir die größte Gruppe der Kirchenbesucher sind, wird in deutscher Sprache gepredigt“ (S. 29). Der Priester, ein Konvertit „der während seines juristischen Studiums durch Begegnung mit Katholiken zum Glauben an Christus und dann zum Priestertum fand“, predigt über das Fischer-Gleichnis aus dem Neuen Testament (Lukas 5,5), welches er in Beziehung setzte zur Lage der Kirche in den Nordischen Ländern (S. 29). In Molde ergab sich für die Gruppe folgendes Bild: „Der Vertreter des Pfarrers, ein junger deutscher Pater aus Wittlich an der Mosel stammend, erzählte uns, dass die Gemeinde sich aus 60 Menschen zusammensetzt. Er meinte 30 könnten im Sonntagsgottesdienst sein. Es wären vergangen Sonntag jedoch nur 10 gewesen“ (S.52).

Auf der letzten Seite des Reisetagebuchs hat Kruse einen Artikel des Osloer Bischofs John W. Gran aus dem „Bonifatiusblatt“ von 1978 eingeklebt – Jahre später also nach der eigentlichen Reise. Unter der Überschrift „Norwegen – Land der Diaspora“ attestiert Gran der katholischen Gemeinde Norwegens eine ungewisse Zukunft, vor allem durch deutsche Katholikenverbände sei eine „erhebliche Besserung“ eingetreten.

Kruses detailreiches Reisetagebuch stellt eine eindrucksvolle persönliche Dokumentation von Norwegens mittelalterlichem Katholizismus einerseits und den Herausforderungen für die Gemeinden von 1962 auf der anderen Seite dar. Dieser Fokus könnte auch auf den Reiseveranstalter zurückzuführen sein, der leider nicht bekannt ist. Evtl. handelt es sich wie bei der ersten Romreise Kruses im Jahre 1950 um die „Katholische Deutsche Lehrerschaft“, die für ihre Mitglieder auch Auslandsreisen organisierte. Für Kruse war die Religionspraxis ein wichtiges Moment in ihrem Alltagsleben, das auch ihre Reisen beeinflusste, insofern wird es sie gefreut haben, dass auf den Busfahrten von einem Ort zum anderen „aus vollem Herzen“ Kirchenlieder gesungen wurden, wie sie in ihrem Reisetagebuch vermerkt (S. 20).  Dass die meisten Stabkirchen zu Museen umgewandelt wurden, „während die Generation, die sie unter grössten Opfern baute und ausschmückte, sich ausschliesslich der laudatio Domini verpflichtet wusste“, bedauert sie natürlich (S. 86).

Dies konnte ihre Freude darüber aber nicht trüben, dass in Form dieser architektonischen Besonderheit einzigartige „Zeugen eines echten und wahren Christentums, das im Mittelalter in Skandinavien gelebt wurde“, erhalten geblieben sind (ebd.).

Dia "Letzter Abschied von Norwegen". Foto und Beschriftung: Hedwig Kruse, Archiv für Alltagskultur, Bestand Kruse.

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