„Geschichte von unten“ – Neue Geschichtsbewegungen in Nordrhein-Westfalen (1970 – 1985). Eine Tagung des Brauweiler Kreises

15.04.2025 Niklas Regenbrecht

„Solange in Ickern Demokraten leben, darf es keine Nazis geben!“, Friedens‐ und Antifaschismus‐Demonstration, Castrop‐Rauxel, Mai 1978. LWL-Medienzentrum für Westfalen, Sammlung Helmut Orwat, Sig. 18_2510

Yannick Rüskamp

Die in den 1970er und 1980er-Jahren aufkommende Alltagsgeschichte und die von Lutz Niethammer geprägte Interviewpraxis gehören heute ebenso zum historiographischen Repertoire wie Gedenkstätten und ‚freie Archive‘ zur geschichtskulturellen Landschaft, dies trotz anfänglicher Widerstände aus der Historiker:innenzunft. Auch in Nordrhein-Westfalen entstanden, aus Eigeninitiative und Selbstermächtigung heraus, an vielen Orten gewerkschaftlich-, feministisch-, queer-, und/oder antifaschistisch-geprägte Geschichtswerkstätten. Diese Aktivitäten der sogenannten ‚Neuen‘ sozialen Bewegungen waren Thema der diesjährigen Jahrestagung des Brauweiler Kreises (BWK) – einer Arbeits- und Diskussionsplattform zur Landeszeitgeschichte Nordrhein-Westfalens – , die am 6. und 7. März 2025 im LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster stattfand. In Kooperation mit dem LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte und der Villa ten Hompel wurde die Erforschung und Dokumentation der „Geschichte des kleinen Mannes – und der kleinen Frau“ (Markus Köster) zwischen Rhein und Weser, zwischen Eifel und Wiehengebirge, in den Blick genommen.

Weiter in seinem Grußwort auf die Diskrepanz zwischen der „Akzeptanz- und Relevanz-Krise“ der akademischen Geschichtswissenschaft und der zunehmenden örtlichen und regionalen Aneignung von Geschichte zu Beginn der 1970er-Jahre verweisend, fragte der Vorsitzende des Brauweiler Kreises und Mitgestalter der Tagung, Markus Köster, nach den Hintergründen und Entwicklungszusammenhängen, den Biographien und Motivationen der beteiligten Akteur:innen, den Formen und Stoßrichtungen ihrer Projekte und Werkstätten sowie nach Rückwirkungen auf die „etablierte historische Arbeit“, die universitäre Historiographie und den schulischen Unterricht ebenso wie die traditionelle Heimat- und Geschichtsvereine. Das derart umrissene Programm der Tagung wurde am 6. März eingeleitet durch eine Podiumsdiskussion mit Zeitzeug:innen aus den Reihen der Aktiven der Geschichtswerkstattbewegung. Auf dem Podium saßen Alexander von Plato (ehem. Institut für Geschichte und Biographie der Fernuniversität Hagen), Angela Genger (ehem. Alte Synagoge Essen sowie Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf), Robert Krieg (Freundeskreis Paul Wulf) und Stefan Goch (Mitbegründer des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung in Gelsenkirchen e.V.), moderiert wurde das Gespräch von Alfons Kenkmann (ehem. Leiter des Geschichtsorts Villa ten Hompel, Münster). Deutlich wurde, dass vielfach persönliche Erlebnisse und Erfahrungen am Anfang einer Hinwendung zur Lokal- und Alltagsgeschichtsschreibung standen und dass diese auch als politisches Engagement begriffen wurde. Beim Blick in die Geschichte zeige sich, dass die Studentenbewegung zwar ein entsprechendes Bewusstsein geschaffen habe, es jedoch erst in den 1980er-Jahren zu einer größeren Zahl an Gründungen lokaler Geschichtswerkstätten und –gedenkorte gekommen sei, die gleichermaßen als wissenschaftlich und politisch eingeordnet werden könnten.  Die Abwertung der Forscher:innen und ihrer Methoden durch die etablierte Geschichtswissenschaft („Barfußhistoriker“, Hans-Ulrich Wehler) gehört heute ebenso zur Geschichte der Geschichtswerkstattbewegung wie die Verteidigung von Forschungs- und Dokumentationsprojekten zum Nationalsozialismus gegen Forderungen nach einem Schlussstrich.

Der folgende Tag begann mit der Sektion ‚Grabe wo Du stehst – Geschichte vor Ort‘, moderiert von Stefan Querl (Villa ten Hompel, Münster). Den Auftakt machte Ulrike Löffler (Friedrich-Schiller-Universität, Jena) mit nordrhein-westfälischen Fallbeispielen aus ihrer Dissertation zur NS-Gedenkstättenarbeit in der Bundesrepublik bis 1990. Sie zeigte, wie das „exterritorial“ stattfindende Gedenken, von Opferverbänden mit internationalem Publikum organisiert, sich ab den 1980er-Jahren veränderte und machte dabei drei idealtypische Stränge aus: die staatsbürgerliche Erziehung, die „antifaschistische Traditionsbildung“ sowie eine christlich-theologische Ausrichtung.

Mit Verweis auf die amerikanischen, britischen und schwedischen Vorläufer der Geschichtswerkstätten stellte Thomas Finkemeier (Düsseldorf) mehrere Werkstätten aus dem Rhein-Ruhr-Gebiet vor, welche ab den 1980er-Jahren aktiv waren. Mit emanzipatorischen und basisdemokratischen Anspruch, zumeist aus einem links-alternativen und akademischen sozialen Milieu heraus argumentierend, beschäftigten sich diese vornehmlich mit lokalen Widerstands- und Verfolgungsgeschichten gegen den Nationalsozialismus sowie mit der Alltags- und Sozialgeschichte marginalisierter Gruppen. Als „Motor der Geschichtsbewegungen im Ruhrgebiet“ machte Finkemeier die Bildungsreform der 1970er-Jahre aus, welche eine Zunahme der Erwachsenenbildung mit sozialpädagogischer Ausrichtung bedingte. In Hinblick auf die derzeitige Situation der Geschichtswerkstattbewegung konstatierte er, dass die ursprüngliche Sozialpädagogik und Systemkritik vieler Geschichtswerkstätten im Zuge ihrer Institutionalisierung verloren gegangen sei.

Den Blick auch auf periphere Orte richtend, vervollständigte Keywan Klaus Münster (LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte, Bonn) die erste Sektion mit einer Übersicht über die lokalen Geschichtsvereine im Rheinland und ihre Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit. Er stellte Anhand dreier Fallbeispiele (Düren, Rösrath und Bonn) dar, wie die Frage der Deutungshoheit über die örtliche Geschichte nach Aufkommen neuer Geschichtsbewegungen im Einzelfall ausgehandelt wurde, wobei sich in allen drei Orten eine andere Konstellation herausbildete: In Düren standen sich zeitweise Alt und Neu unversöhnlich gegenüber, während in Bonn eher ein Neben-, als ein Gegeneinander bestand. Für Rösrath ließe sich dagegen eine fruchtbare Kooperation attestieren.

Den Unterschieden zwischen „Stadt und Peripherie“ nahmen sich Sabine Kittel (Institut für Stadtgeschichte, Gelsenkirchen) und Bärbel Sunderbrink (Stadtarchiv Detmold) in ihrem Beitrag an. Unter der Moderation von Claudia Kemper (LWL Institut für westfälische Regionalgeschichte, Münster) wurde damit die zweite Sektion ‚Gegenentwürfe zur heteronormativ-patriarchalen Geschichtsschreibung‘ eingeleitet. Bei einem Vergleich der Frauengeschichtswerkstatt Gelsenkirchen und des Frauengeschichtsladens Lippe e. V. stellten Kittel und Sunderbring heraus, dass die beiden Vereine sich nicht so sehr durch ihr Umfeld, sondern eher durch eine andere thematische Gewichtung unterschieden. Wichtiger als die Zuordnung zur Stadt oder Peripherie scheint eine an die akademische Geschichtswissenschaft angelehnte Perspektive und das Ziel einer Stärkung der weiblichen Selbstwahrnehmung zu sein, die die beiden Initiativen verbindet.

In ihrem Vortrag „Vom Rand in die Mitte?“ setzte sich Julia Paulus (LWL Institut für westfälische Regionalgeschichte, Münster) am Beispiel der Stadt Münster mit queerer Geschichtsarbeit auseinander. Hier wie auch in anderen Städten war diese vor allem auch eine Selbstermächtigung der Betroffenen, die aus dem Bewusstsein einer Marginalisierung heraus begannen, einschlägige Quellen selbstständig zusammenzutragen und ihre eigene Geschichte zu dokumentieren. Auf diese Weise entstanden Sammlungen, welche heute Forschenden und Interessierten einen bemerkenswerten Quellenfundus bereitstellen können, so z. B. das Lesbenarchiv und Bibliothek Spinnboden (Berlin), sowie das feministische Frauen- und Lesbenarchiv ausZeiten (Bochum).

Die dritte Sektion war mit ‚Quellen sichern – Überlieferungen schaffen – Geschichte vernetzen‘ überschrieben. Einen guten Überblick über die Archive (Neuer) sozialer Bewegungen bot hier das einleitende Referat von Bettina Joergens (Landesarchiv NRW, Duisburg). Das Selbstverständnis solcher Sammlungen illustrierte sie an mehreren Beispielen, u. a. am Archiv der Arbeiterjugendbewegung und des Archiv- und Dokumentationszentrums des Rom e. V. Auch stellte sie die Herausforderungen der (oftmals ehrenamtlichen) Arbeit in ‚freien‘ Archiven heraus.

Den Abschluss der Sektion markierte der Vortrag von Katrin Minner (Universität Siegen) zur frühen Geschichte des Brauweiler Kreises. Als zentral stellte sie dabei die Person des Initiators dieses Forschungsverbundes, des WDR-Rundfunkjournalisten Walter Först, heraus, dessen landesgeschichtliches Interesse 1978 in der Schaffung eines „neuen Kanals“ zur Vermittlung von landes-zeithistorischem Wissen mündete.  Minner führte aus, wie sich aus den vielfältigen Beziehungen von Först zu (fast ausschließlich männlichen) Historikern, Archivaren, oberen Verwaltungsbeamten, aber auch Lehrern, ein Arbeitskreis aus „Mulitplikatoren“ rekrutierte. Nach dem Tod von Först 1993 habe sich das personelle Verhältnis jedoch zu Gunsten einer stärker akademischen Ausrichtung verschoben.

Die Veröffentlichung der Beiträge erfolgt im 40. Jahrgang der vom Brauweiler Kreis herausgegebenen, Zeitschrift Geschichte im Westen.

 

Programm:

Donnerstag, 6. März 2025

19:00 Uhr: Begrüßung durch Prof. Dr. Markus Köster, Vorsitzender des Brauweiler Kreises e. V.

19:15 Uhr: Öffentliche Podiumsdiskussion mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen: „Geschichte von unten“ – erfahrungsgeschichtliche Rückblicke

 

Freitag, 7. März 2025

9:15 Uhr: Sektion I: Grabe, wo Du stehst – Geschichte vor Ort (Moderation: Stefan Querl, Münster)

Dr. des. Ulrike Löffler, Jena – Zwischen staatsbürgerlicher Erziehung und „Antifaschismus“ -  Gedenkstättenarbeit in NRW in den 1980er Jahren

Thomas Finkemeier M.A., Düsseldorf – Von Piraten, Hexen und Malochern. Die Geschichtswerkstatt-Bewegung im Ruhrgebiet in den 1980er Jahren

Dr. Keywan Klaus Münster, Bonn – Wettbewerb und Verdrängung: Die Geschichtsvereine und die lokale NS-Forschung seit den 1970er Jahren

 

11:45 Uhr: Sektion II: Gegenentwürfe zur heteronormativ-patriarchalen Geschichtsschreibung (Moderation: PD Dr. Claudia Kemper, Münster)

Dr. Sabine Kittel, Gelsenkirchen/Dr. Bärbel Sunderbrink, Detmold –Frauengeschichtswerkstätten in Stadt und Peripherie. Akteurinnen – Themen – Nachwirkungen

Dr. Julia Paulus, Münster – Vom Rand in die Mitte? Queere Geschichtsarbeit

 

14:00 Uhr: Sektion III: Quellen sichern – Überlieferungen schaffen – Geschichte vernetzen (Moderation: Dr. Daniel Schmidt, Gelsenkirchen)

Dr. Bettina Joergens, Duisburg – (Neue) Soziale Bewegungen – „festgehalten“ für immer?: Archive der demokratischen Zivilgesellschaft

Dr. Katrin Minner, Siegen – Walter Försts neuer Kanal: fachliches Netzwerk, neues Wissen und Vermittlung - Die Frühgeschichte des Brauweiler Kreises

Kategorie: Veranstaltungen

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