Niklas Regenbrecht
Anlässlich des 800. Jubiläums der Verleihung von Stadtrechten an Bocholt ist ein voluminöser Band zur Stadtgeschichte im 20. Jahrhundert erschienen. Das Sammelwerk wurde vom Bielefelder Historiker Hans-Walter Schmuhl im Auftrag der Stadt herausgegeben. Es vereint zwei umfassende Darstellungen zur Stadtgeschichte in der ersten und zweiten Jahrhunderthälfte sowie elf kürzere thematische Beiträge.
„Wie erfand sich die Textilindustriestadt Bocholt im Laufe des 20. Jahrhunderts neu?“ (Einleitung, S. 9) Das ist eine der zentralen Fragen des Bandes. Zurückgegriffen wird dabei auf das Paradigma der „Entwicklungspfade“: „Danach verläuft die Entwicklung einer Stadt innerhalb einer Bahn, die durch strukturelle Gegebenheiten […] vorgegeben wird. Dadurch können ‚Pfadabhängigkeiten‘ (path dependencies) entstehen, Systemlogiken, die sich entwicklungshemmend auswirken und bis zu einem lock-in gehen können, einer starken Verfestigung bestehender Verhältnisse, die im Sinne der Stadtentwicklung längst dysfunktional geworden sind. Pfadabhängigkeiten sind jedoch nicht unüberwindlich. In kritischen Situationen (critical junctures) kann es zu einem Wechsel des Entwicklungspfades kommen.“ (Einleitung, S. 8) Das ist so einleuchtend wie passend für eine Stadtgeschichte. Doch entsprechen solche einleitenden Formulierungen wirklich dem im vorangestellten Grußwort des Bürgermeisters formulierten Anliegen, „ein für viele Leserinnen und Leser ansprechendes Buch“ vorzulegen?
Die darauffolgenden Beiträge zeigen, dass eine Synthese hier gelingt. Schon der Anfang des ersten der beiden großen überblicksartigen Aufsätze zeigt, wie interessant und zudem spannend formuliert so etwas wie Verwaltungsgeschichte sein kann. Hans-Walter Schmuhl beginnt seine Geschichte Bocholts in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit einem schweren Unglück auf der Baustelle einer Baumwollspinnerei. Aus der Erzählung dieses Ereignisses entwickelt er eine Darstellung der örtlichen, von Textilunternehmern geprägten Machtverhältnisse, der schleppenden Verwaltungsreformen, der Lokalpolitik und der Industrialisierung, der Stadtplanung und Lebensbedingungen der Einwohner. Auf über 120 Seiten wird die Geschichte der Stadt Bocholt bis zum Kriegsende 1945 prägnant geschildert. Handelt es sich dabei um eine chronologisch geprägte Darstellung, so ist der zweite große Aufsatz über die Geschichte der Stadt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Alexandra Bloch-Pfister „systematisch“ aufgebaut: „In acht zeitlichen Längsschnitten werden die Bevölkerungsentwicklung, politische Strukturen, Verwaltungsorganisation und Kommunalpolitik, die räumliche Stadtentwicklung, die Wirtschafts-, die Verkehrs- und die Entwicklung der Infrastruktur sowie des Alltagslebens analysiert.“ (Einleitung, S. 10)
Auf diese zwei Gesamtdarstellungen folgen elf kürzere Beiträge aus der Hand ausgewiesener Fachleute, die sich einzelnen für die Stadtgeschichte relevanten Themen widmen. Der Bedeutung Bocholts als Stadt an der nahen Grenze zu den Niederlanden widmen sich zwei Beiträge, ebenso wie der stadtprägenden Textilindustrie. Weitere Beiträge behandeln die Geschichte des Rundfunks, das Verhältnis von Katholizismus und Nationalsozialismus, das Kriegsgefangenenlager Stalag VI F, Umweltgeschichte, Tourismus, Städtepartnerschaften und Stadtjubiläen. So entsteht ein vielseitiges Panorama, welches die verschiedensten Pfade der Bocholter Stadtgeschichte im 20. Jahrhundert ansprechend und gut leserlich zusammenführt.
Bibliographische Angaben:
Hans-Walter Schmuhl (Hg.): Bocholt im 20. Jahrhundert. Eine Stadt auf neuen Pfaden (Bocholter Quellen und Beiträge, Bd. 16), Bocholt 2022.