„… oder es läuten die Glocken“. Ute Lemper über Kindheit und Jugend in Münster

29.08.2023 Marcel Brüntrup

Timo Luks

© Gräfe und Unzer Verlag/ Guido Harari

Ute Lemper – internationaler Musicalstar, Sängerin, Tänzerin, Schauspielerin – wurde 1963 in Münster geboren. Anlässlich ihres runden Geburtstags hat sie nun ihre Autobiographie veröffentlicht, um genau zu sein: ihre zweite. Sie verknüpft Erinnerungen und findet dafür ein griffiges Bild: „Der Bühnenmoment vergeht, bleibt in Erinnerung, wenn er es wert ist. Am nächsten Tag muss er neu geschaffen werden und dann noch einmal, anders, ähnlich, mal schwächer, mal stärker, doch immer wieder neu geboren.“ (S. 6)

Bereits 1995, im Alter von 32 Jahren, veröffentlichte Ute Lemper ihre Lebenserinnerungen („Unzensiert“). Das Buch stand seinerzeit unter dem Eindruck von Mauerfall, Wiedervereinigung und Ute Lempers ersten großen, internationalen Erfolgen. Bereits dieses Buch bezeichnet sie rückblickend als „ein wildes Gewölbe an Erinnerungen und Poesie“. „Ein Jahr später“, so heißt es, „hatte ich alles, was ich geschrieben hatte, vergessen und war voll in ein neues Leben eingetaucht, in dem die Existenz des Buches keine Bedeutung mehr hatte.“ (S. 20) Der Reiz des neuen Buchs besteht nicht zuletzt darin, dass großzügig Passagen aus dem älteren zitiert und die Erinnerungen der damals „jungen Ute“ reflektiert werden. „Ich stand mir selbst gegenüber. Einer jungen Version von mir. Einer Ute, der vor 30 Jahren 30 Jahre fehlten, um tief durchzuatmen und die Stille festzuhalten.“ (S. 21)

© Gräfe und Unzer Verlag/ Guido Harari

Kindheit und Jugend in Münster werden unter Rückgriff auf die früheren Erinnerungen erschlossen. Ihr jüngeres Selbst zitierend, schreibt Ute Lemper: „Erinnere ich mich an die Kindheit, trete ich seltsamerweise auf die Bremse: die Dunkelheit der Nächte, der große Bruder, die Kirche, die Gebete, autoritäre Ikonen, die kleine Straße, die Nachbarskinder, die Lampenschirme der 60er, die in Albträumen auch heute noch manchmal bedrohlich auf mich zuspringen.“ (S. 30) Sie spricht von einer „Normalität des Alltags“, die durch nichts unterbrochen wurde: der „gebetbuchschwere Quacksalberhimmel über Münster“, die „bodenständige Holz- und Dickschädeligkeit in Westfalen.“ (S. 33)

Ein Verständnis von Alltag als Routine und etwas Be- oder sogar Erdrückendes findet sich nicht nur bei Ute Lemper. Es markiert ein verbreitetes Wahrnehmungsmuster, vor allem im Rückblick und dann, wenn dieser Alltag in einen Gegensatz zu künstlerischen Ambitionen gerückt wird. Alltag im „dickschädeligen Westfalen“ ist dann der notwendige Startpunkt für eine Künstlerinnenkarriere in Berlin, Paris, New York. In dieser Hinsicht müsste es allerdings nicht Münster sein.

© Gräfe und Unzer Verlag/ Guido Harari

„Das Glockengeläute der vielen Kirchen rundherum hatte mich von meiner Kindheit an bis in die späte Jugend jeden Morgen mit Vehemenz und Warnung aus dem Bett geworfen. Es füllte mich mit Melancholie vor einem vorbestimmten Leben. Alles schien grau und mehr grau in grau. Es regnete fast jeden Tag. Man sagt über Münster: Entweder es regnet, oder es läuten die Glocken! Die Glocken läuteten aber, während es gleichzeitig ununterbrochen regnete, den Untergang meiner Emanzipation ein, nahmen mir den Mut, von einem aufregenden, unnormalen Leben weit weg zu träumen. Sie zerschossen Luftschlösser und Sehnsüchte.“ (S. 39)

Im Lauf der Zeit habe sich die Religiosität der Münsteraner:innen gelockert, „als ob dieses starre Gerüst der Werte mehr und mehr zusammenfiel“. Und dennoch: „Meine Besuche in der Heimatstadt Münster waren jahrzehntelang sehr rar. Ich fühlte mich bedrückt, als ob sich ein dunkler Priestermantel um mich legte und mir die Luft abschnürte.“ (S. 48) Der Aufbruch war notwendig, daran lässt Ute Lemper keinen Zweifel. Der Rückblick des sechzigjährigen Weltstars lässt aber auch melancholische Töne zu, die die Distanz zwischen der Weggezogenen und der Familie in Münster thematisieren. „Hier ist das Problem, das meine Mutter schon vor fünfundzwanzig Jahren tieftraurig bedauert hat. Ich lebe in New York, unsagbar weit entfernt von Münster. Ein Ozean und viel mehr liegt zwischen mir und der Musik der Kirchenglocken, der Welt und Stadt meiner Kindheit, aus der ich stamme.“ (S. 304)

© Gräfe und Unzer Verlag/ Guido Harari

Die für Autobiographien von Künstler:innen nicht untypischen Schilderungen des Aufwachsens in irgendeiner „Provinz“ bekommen so ihre Münsteraner Färbung. Inwieweit sich darin ein inzwischen auch ironisch gebrochenes Selbstverständnis der Münsteraner:innen spiegelt, vermag ich nicht zu beurteilen. Mir als kürzlich Zugezogenem ist die Rede von den Glocken und dem Regen in den Erinnerungen der jung weggezogenen Ute Lemper bereits zum zweiten Mal begegnet: das erste Mal natürlich in einem der Münsteraner TV-Krimis.

 

 

Ute Lemper: Die Zeitreisende. Zwischen Gestern und Morgen, München 2023.