Oder kann das weg? Eine Ausstellung über Dinge, die ihren Gebrauchszweck oder unsere Aufmerksamkeit verloren haben.

13.09.2024 Marcel Brüntrup

Aus dem Abfall der Bielefelder Anker-Werke fertigte ein Mitarbeiter 1934 dieses Karussell für seine Kinder. Viele Jahre später gelangte es ins Historische Museum Bielefeld, wo es im Depot aufbewahrt wird. (Foto: Cantauw)

Christiane Cantauw

Wie viele Dinge besitzen wir eigentlich? Statistiken zeigen, dass gegenwärtig jede Person in Mitteleuropa rund acht- bis zehntausend Gegenstände besitzt. Für die vielen Dinge benötigen wir immer größere Wohnungen, die sich im Laufe unseres Lebens mit immer neuen Sachen anfüllen. Gleichzeitig verschwinden andere, weil vieles weggeworfen wird, wenn es beschädigt, unmodern, überflüssig oder abgenutzt ist. Mit dem Hyperkonsum seit den 1980er Jahren wurden Reparieren, Weitergeben, Umnutzen, Flicken und Stopfen zunehmend unmodern; oft waren diese Tätigkeiten auch gar nicht mehr vorgesehen. Viele Elektrogeräte wurden beispielsweise so gefertigt, dass man sie nicht zerlegen konnte, um Reparaturen vorzunehmen, oder dass kaputte Elektrokabel nicht ausgetauscht werden konnten. Nicht selten ging auch Knowhow verloren, darüber, wie man beispielsweise Löcher stopft, Socken anstrickt, einkocht oder Fahrradreifen flickt.

Eine Sonderausstellung im Bielefelder Historischen Museum, die noch bis Jahresende 2024 gezeigt wird, hat das komplexe Gefüge aus Konsum, Abfall, Sammeln und Wertschätzen nun zum Thema gemacht. Fünf Themeninseln erwarten die Besucher:innen; auf ihnen geht es um „Kaufen und Verbrauchen“, „Wegwerfen und Entsorgen“, „Reparieren und Selbermachen“, „Wieder- und Weiterverwerten“ und „Wertschätzen und Umdenken“. Das Museumspublikum erfährt, dass Menschen auch in der Vorgeschichte bereits Müll produziert haben – allerdings weitaus weniger als wir heute. Nur das, was völlig kaputt war und damit wirklich unbrauchbar, wurde weggeworfen. Zum Glück, sagen die Archäolog:innen heute, denn aus dem Inhalt von Abfallgruben lässt sich so manche Information über das Alltagsleben vergangener Zeiten herauslesen.

Das Teilstück eines Kesselrohrs aus der Müllverbrennungsanlage Bielefeld zeigt die enorme Beanspruchung der Anlage, die regelmäßige Reparaturen und Erneuerungen erfordert. (Foto: Cantauw)

Eines wird bereits zu Beginn der Ausstellung deutlich herausgestellt: Zur Herstellung der Dinge unseres täglichen und nichtalltäglichen Bedarfs benötigen wir Ressourcen. Und die sind begrenzt. Diese Erkenntnis ist nicht neu und – zumal in Kriegszeiten – mit enormem Aufwand kommuniziert worden. Ermahnungen zum sparsamen Umgang mit Brennstoffen, Textilien, Wertstoffen wie Eisen oder landwirtschaftlichen Produkten gab es bereits in der Frühen Neuzeit. Sie wurden in den beiden Weltkriegen popularisiert. Historisch betrachtet konnten es sich die Menschen bis in die jüngste Geschichte hinein einfach nicht leisten, etwas zu verschwenden: weder die Knochen, Felle und Sehnen der von ihnen geschlachteten Tiere noch Wasser, Kohle, Metall oder Papier.

Das ist seit der sogenannten Wirtschaftswunderzeit anders: Was es für eine Stadt wie Bielefeld bedeutet(e), dass jährlich immer mehr Abfall anfällt, darüber klärt die zweite Themeninsel auf. Das Wegwerfen hat und hatte seinen Preis, der sich nicht nur in Abfallgebühren beziffern lässt, sondern auch Skandale um durch Müll verseuchte Böden und Klagen über stinkende Abgase der Müllverbrennungsanlage nach sich zog. Beim Thema Müllverbrennung zeigt sich aber auch, dass ein Umdenken in Richtung einer Wertschätzung von Müll als Ressource stattgefunden hat: Durch die Nachrüstung mit moderner Umwelttechnologie versorgt die Müllverbrennungsanlage heute knapp 60.000 Bielefelder Haushalte mit Strom und 25.000 Haushalte mit Fernwärme. Nicht allerorten gibt es derartige Müllverbrennungsanlagen. Und: Müllvermeidung ist trotz alledem immer besser als Müllverbrennung.

Diese Gläser werden schon seit Jahrhunderten nicht mehr benutzt. Trotzdem sind sie von großem Wert, handelt es sich doch um archäologische Funde aus dem 17. und frühen 18. Jahrhundert, die bei einer Ausgrabung in Rheine gefunden wurden. Falkenhof Museum, Rheine (Foto: Cantauw)

Was aber ist überhaupt Müll? Sind die noch funktionierenden Dinge aus der Betheler Brockensammlung wie die Langlaufskier, die Kindergartentasche oder die Puppe aus den 1930er Jahren Müll? Kann das weg? Sollte man die zwar schönen, aber völlig kaputten farbigen Gläser, die in einer Vitrine auf der vierten Themeninsel ausgestellt werden, entsorgen? Besser nicht, handelt es sich hierbei doch um archäologische Funde aus dem 17. und frühen 18. Jahrhundert, die bei einer Ausgrabung in Rheine gefunden wurden und nun zum sorgsam gehüteten Museumsbestand des dortigen Falkenhof Museums zählen.

Was für den Einen Müll ist, ist für den Anderen der Ausgangspunkt alltäglicher und/oder kreativer Beschäftigung (Themeninsel „Reparieren und Selbermachen“) oder museales Sammlungsgut (Themeninsel „Wieder- und weiterverwerten“). Auch das zeigt die Ausstellung: Aus dem, was die Einen wegwerfen, machen Andere Neues: beispielsweise Kunst-, aber auch Gebrauchsgegenstände. Sie zeigen damit auch, dass sie die Dinge ebenso wie die Ressourcen, die zur Herstellung benötigt wurden, und/oder die Menschen, die sie hergestellt haben, wertschätzen. Da ist zum Beispiel ein Aktenkoffer, der aus Bierdosen hergestellt wurde. Er war das Geschenk eines kleinen Handwerksbetriebs aus Benin an die Gesellschaft für Arbeits- und Berufsförderung (GAB) in Bielefeld, die dem Betrieb kostenlos wiederaufgearbeitete Maschinen zur Verfügung gestellt hatte. Die als Gastgeschenk ebenfalls mitgebrachten Bierdosen einer heimischen Brauerei wurden nach dem gemeinsamen Entleeren kreativ weiterverarbeitet. Ein schönes Beispiel für den Bereich „Wertschätzen und Umdenken“.

Bereits seit 1963 werden in Bielefeld gebrauchte Kupplungen für Pkw generalüberholt und zur Wiederverwendung verkauft. (Foto: Cantauw)

Warum also kann das Eine weg und das Andere eben nicht? Vielleicht beantwortet ein schmales Regal am Ende der Ausstellung diese Frage. Dort ist Platz für vom Museumspublikum mitgebrachte Gegenstände und die Geschichten und Erinnerungen, die sich daran knüpfen; als Gegengabe für diese Geschenke an das Museum gibt es freien Eintritt in die Ausstellung. Die hier deponierten Gegenstände haben für kurze Zeit die Aufmerksamkeit ihrer Besitzer:innen zurückerhalten. Sie erinnerten sich, warum sie den Gegenstand einst angeschafft hatten, was sie damit gemacht haben und was das alles mit ihnen persönlich und ihrem Alltag zu tun hat(te). Diese Erinnerungen sind es, die die Puppe vom Flohmarkt und die alten Skistiefel aus der Masse der Gegenstände herausheben und sie zu Zeugnissen gelebter Geschichte und gegebenenfalls auch zu Museumsgut machen.

Dinge können unsere Wertschätzung und unsere Aufmerksamkeit verlieren; sie können sie aber auch zurückerlangen. Darüber nachzudenken, an welche Voraussetzungen das geknüpft ist und wie das gehen kann, was das mit jedem/jeder Einzelnen von uns zu tun hat und wie sich das auf unseren Alltag auswirken könnte, ist in dieser Ausstellung sehr unterhaltsam und lustvoll und kommt – das ist unbedingt hervorzuheben – ohne erhobenen Zeigefinger aus.

Oder kann das weg? #Wegwerfen #Wiederverwerten #Wertschätzen. Historisches Museum Bielefeld, Ravensberger Park 2, 33607 Bielefeld.

Öffnungszeiten und weitere Informationen: www.historisches-museum-bielefeld.de