Palmstockkulturen
Palmstockkulturen
Christiane Cantauw
1954 hat Peter Lesker für die Volkskundliche Kommission eine Karte gezeichnet, die verschiedene Erscheinungsformen von Palmstöcken im westfälischen Raum kleinregional zuordnete. Grundlage für diese Karte war ein groß angelegtes, über Deutschland hinaus reichendes Umfrageunternehmen aus den 1930er Jahren: der Atlas der Deutschen Volkskunde (ADV). In Lieferung 2 wurden Informationen darüber erbeten, ob und wann ein Strauß von Zweigen hergestellt werde („am Palmsonntag? Oder an einem anderen Tag vor Ostern, und welchem?“), aus welchen Pflanzen er bestehe, ob er in der Kirche geweiht und wie er bezeichnet werde (Frage 64). In Frage 65 heißt es dann weiter: „Ist dieser Strauß noch besonders geschmückt, und womit?“ und „Welches ist seine Form?“ Auch eine Umrisszeichnung mit Angabe der Größe wurde erbeten.
Gefragt wurde hier nach einem Brauchrequisit des Palmsonntagsbrauches, das in den Kontext katholischer Frömmigkeitsformen gehörte und wohl auch immer noch gehört. Es sollte von den Befragten möglichst genau beschrieben werden.
Der Palmsonntag, der eine Woche vor Ostern gefeiert wird, ist im Christentum der Erinnerung an den Einzug Jesu in die Stadt Jerusalem gewidmet. Im Johannesevangelium heißt es dazu, dass die Menschen der Stadt Palmzweige nahmen, ihm entgegengingen und ihn als König von Israel priesen. Mit dem Verweis auf das Siegeszeichen Palmzweige wollte Johannes wohl die politische Bedeutung dieses Einzugs in die Stadt betonen.
Die sogenannten Palmstöcke, die aus mit aufgerichteten Blütenkätzchen bestandener Salweide, grünem Buchsbaum und/oder Haselnusszweigen mit hängenden Kätzchen sowie verschiedenen Dekorelementen (buntes Kreppband, Äpfel, Eier, Gebäckstücke etc.) bestehen, knüpfen symbolisch an diese Bibelstelle an. Die kunstvoll und oft aufwendig gestalteten Palmstöcke werden in den katholischen Gemeinden in der Woche vor Palmsonntag gefertigt und im Hochamt am Palmsonntag geweiht. Traditionell wurden die Palmbüschel nach der Weihe zuhause verteilt, weil man sich von ihnen Schutz vor Feuer, Blitz, Hagel oder auch (Tier-)Krankheiten erhoffte. Die Palmsträußchen wurden hinter den im ganzen Haus verteilten Kreuzen angebracht; bei schweren Gewittern verbrannte man sie im Herdfeuer oder mengte sie im Falle von Erkrankungen kleingemahlen dem Tierfutter bei. Im Sauerland und im Paderborner Land pälmte man auch wohl die Felder, d. h. der Bauer errichtete an allen Ecken eines Feldes ein Palmkreuzlein. Auch wenn jemand verstorben und zuhause aufgebahrt war, kamen die Palmzweige zum Einsatz: Mit den in Weihwasserbecken getauchten Zweige besprengten die Besucherinnen und Besucher am Totenbett die Verstorbenen mit Weihwasser.
Die von Peter Lesker gezeichnete Karte zeigt zahlreiche sehr unterschiedliche Formen von Palmstöcken: Von recht großen, mehrarmigen oder kreuzförmigen Gebilden, deren Spitze von einem Apfel oder einem Gebäckstück gekrönt ist, bis hin kleinen Sträußchen oder am Stock aufgespießten Äpfeln mit nur wenigen Zweigen.
Die Darstellung sollte die Vielfalt eines Brauchrequisits zeigen, das in den 1930er Jahren noch ganz selbstverständlich zu den katholischen Frömmigkeitsformen gehörte. Diese Vielfalt ließ sich auch räumlich, in Form der Karte abbilden, die den Betrachtenden den Überblick über eine kleinräumig funktionierende lebendige Brauchkultur suggeriert. Sie zeigt die räumliche Relevanz eines Symbols katholischer Frömmigkeit sowie einen Brauch als kulturelle Konstante und als auf ewig unveränderliches Kulturgut.
Was die Karte nicht abzubilden vermag, sind die vielfältigen Veränderungen des Brauchs und seiner Brauchelemente aufgrund des gesellschaftlichen Wandels und die verschiedenen sozialen Funktionen des Brauchrequisits „Palmstock“.