„Nein, du kleines Büchlein, nein, du sollst nicht mehr klagen.“ Potential von Tagebüchern als Quellengattung

06.08.2024 Niklas Regenbrecht

Tagebuch Elisabeth Schirra, geb. Niggemann, Archiv für Alltagskultur in Westfalen, K03129.0007.

Annina Hofferberth

„Es ist so öde, so leer in mir. Was ist es nur, daß ich mich garnicht mehr von Herzen freuen kann über all das Gute und Schöne, das ich jeden Tag von neuem aus deiner Hand, o Gott empfange.“ So seufzte Elisabeth Anna Niggemann in ihr Tagebuch. Dieser erste Eintrag stammt vom 27. November 1927. Schon aus den ersten Zeilen spricht der Eindruck großer Traurigkeit, der sich mit der Lektüre der weiteren Einträge vertieft.

Beim Lesen des Tagesbuchs von Elisabeth Niggemann zeigt sich einer der Fallstricke im Umgang mit dieser Quellengattung: Die schreibende Person wusste über das eigene Leben Bescheid, Erklärungen zu Kontexten, zu Personen und Orten entfallen damit. Das war auch bei Elisabeth Niggemann der Fall: Sie benutzte das Tagebuch als Spiegel ihrer verworrenen Gefühlswelt und als Werkzeug, sich über diese klarer zu werden. Strukturelle Ursachen für die Zielkonflikte, unter denen sie offenbar litt, bleiben in dem Geschriebenen aber unerwähnt. Manche Einträge wie der am 10. Januar 1928 sind deshalb rätselhaft: „[…] deine Worte von gestern abend haben meine Seele ganz in Aufruhr gebracht, mir unsere Wiedersehensfreude vergällt. Ach, und ich hatte mir alles so schön vorgestellt. Ich hatte mich auf unsere gemeinsamen Stunden so recht gefreut. Nun diese unerwartete Frage. Nur dich habe ich bisher geliebt. Rein bin ich zu dir gekommen. Und nur du allein darfst mich ganz, ganz haben.“ Welche Frage es denn war, die ihr die Wiedersehensfreude nahm, schreibt sie nicht direkt. Doch Kontext und Wortwahl lassen das Thema vorehelicher Intimität vermuten.

Auch von ihrer zu dieser Zeit wahrscheinlich stattfindenden Suche nach einer Stelle als technische Volksschullehrerin ist in dem Tagebuch keine Rede – diese kann erst anhand anderer Unterlagen des Personenbestandes Schirra rekonstruiert werden. Die am 22. Mai 1901 in Hagen geborene Elisabeth Niggemann hatte eine mehrjährige Ausbildung an einem Technischen Seminar absolviert. Nach einer Abschlussprüfung vor einer staatlichen Prüfungskommission war sie berechtigt, als sogenannte technische Lehrerin Handarbeit und Hauswirtschaft an einer Volksschule zu unterrichten. Eine Anstellung fand sie ab dem 1. März 1928 an einer Volksschule in Castrop-Rauxel.

Tagebuch Elisabeth Schirra, geb. Niggemann, Archiv für Alltagskultur in Westfalen, K03129.0007.

Die Ausbildung zur Volksschullehrerin war für Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch vergleichsweise neu und ungewohnt. Nicht nur für Elisabeth Niggemann stand die mit ihrem Bildungsweg und ihrer Berufstätigkeit verbundene Emanzipation im Widerspruch zur einem tradierten Rollenbild, das in ihrem Tagebuch viel Raum einnimmt: die fügsame und treue Ehefrau (und spätere Mutter). Das nicht zuletzt auch deshalb, weil das sogenannte Lehrerinnenzölibat bis 1919 und erneut seit 1923 eine Fortsetzung der Berufstätigkeit nach einer Eheschließung ausschloss.

Ebenso wie das, was ausgelassen wird, sagt das, was erzählt wird und wie es erzählt wird, etwas über das Selbst- und Weltbild der Autorin aus. Im Ge- und Beschriebenen erscheint sie als Frau, die angesichts einer belastenden Gegenwart und einer unsicheren Zukunft Trost in der schreibenden Selbstreflexion sucht. Sinn und Ziel sieht sie vor allem in einer Ehe, die sie in einem Eintrag vom 28. November 1927 mit einer Bergbesteigung vergleicht: „Komm, laß uns wandern in die weite Welt, wir zwei allein, mit starker Liebe, wollen wir den steilen, steilen Berg erklimmen. Er ist so steil, so steinig. Komm, Geliebter, halte mich mit deiner starken Hand, damit ich nicht strauchle, nicht abrutsche.“ Einmal mehr greift sie hier auf tradierte Geschlechterrollen zurück, die Frauen als hilfsbedürftig kategorisierten.

Tagebuch Elisabeth Schirra, geb. Niggemann, Archiv für Alltagskultur in Westfalen, K03129.0007.

Der Nutzen des Tagebuchs als Seelenspiegel ist für Elisabeth Niggemann nur um den Preis regelmäßiger Einträge zu haben. Dementsprechend quält sie das schlechte Gewissen, wenn sie aus ihrer Sicht zu lange keinen Eintrag mehr verfasst hat. Dann spricht sie, wie am 10. Januar 1928, das Tagebuch direkt an: „Ich habe dich stiefmütterlich behandelt. Mit den besten Vorsätzen empfing ich dich, meine Freude, mein Leid solltest du für immer in dich aufnehmen, und ach –, leer die vielen Seiten, nur leere Blätter starren mich an und klagen mir ihr Leid. Nein, du kleines Büchlein, nein, du sollst nicht mehr klagen.“

Auf der anderen Seite sind die Lücken bedingt durch die Funktion, die das Tagebuch ohne Zweifel für Niggemann erfüllte: Es wurde offensichtlich von ihr herangezogen, wenn sie sich angesichts widerstreitender, heftiger Gefühle Klarheit über ihren Seelenzustand verschaffen wollte. Entsprechend ist auch die erste große Lücke erwartbar: Am 19. August 1929 notiert Elli Niggemann, nunmehr Elisabeth Schirra, die Vermählung mit Peter Schirra aus Castrop-Rauxel. Der Zielkonflikt zwischen Berufstätigkeit und Eheleben war damit entschieden.

Der nächste längere Eintrag folgte erst dreieinhalb Jahre später, als ihr Ehemann ohne sie in Winterurlaub fuhr und sie mit dem Kind zuhause alleine ließ. Nach zwei Einträgen brechen die Einträge erneut ab, wahrscheinlich aufgrund der Rückkehr ihres Manns. Nun sollen fast siebeneinhalb Jahre vergehen und ein Weltkrieg losbrechen, bis sie den nächsten Eintrag verfasste, als Bekannte bei einer Bombardierung im Oktober 1940 starben und das Haus der Schirras schwer beschädigt wurde. Eine Zusammenfassung dieser Zeit soll der letzte der wenigen Einträge bleiben.

Tagebuch Elisabeth Schirra, geb. Niggemann, Archiv für Alltagskultur in Westfalen, K03129.0007.

Auch wenn die Einträge nur schlaglichtartige Einblicke in das Selbst- und Weltbild ermöglichen, so sind diese Innenansichten gerade durch Tagebücher rekonstruierbar. Gleichzeitig ermöglichen andere Dokumente aus dem Personenbestand wie beispielsweise Zeugnisse und Einstellungsschreiben die Kontextualisierung der teils rätselhaft bleibenden Tagebucheinträge. So entsteht ein durch Fakten hinterlegtes, vielschichtiges Bild des Lebens und Gefühlslebens einer Volksschullehrerin Ende der 1920er Jahre.

 

Quellen und Literatur:

Tagebuch Elisabeth Schirra, Archiv für Alltagskultur, Personenbestand Schirra, K03129.0007.

Hildegard Stratmann (2006): Lehrer werden. Berufliche Sozialisation in der Volksschullehrer-Ausbildung in Westfalen (1870 – 1914). Münster/New York/München/Berlin.