Bernd Thier
Dass manches vermeintlich Neue gar nicht so neu ist, mag für historisch Interessierte ein alter Hut sein. Trotzdem ist es interessant, wenn sich dieser Sachverhalt anhand von Quellen und ungewöhnlichen Artefakten belegen lässt.
Bernd Thier
Dass manches vermeintlich Neue gar nicht so neu ist, mag für historisch Interessierte ein alter Hut sein. Trotzdem ist es interessant, wenn sich dieser Sachverhalt anhand von Quellen und ungewöhnlichen Artefakten belegen lässt.
Im Folgenden soll eine Art „Quittung“ aus dem Jahr 1772 vorgestellt werden, als Vorform des heute so weitverbreiteten Crowdfundings. Die eingehende Betrachtung dieses „einfachen alten Zettels“ – fast unter kriminalistischen Gesichtspunkten – soll auch Beispiel dafür sein, was sich an bzw. aus einem unscheinbaren Objekt nach 250 Jahren noch an Informationen ablesen lässt. Sie verrät außerdem viel über den Wissenschaftsbetrieb in der Barockzeit auf der einen, aber auch über die Problematik der Wissensverbreitung durch Bücher und die Schwierigkeiten zur Finanzierung von Buchprojekten, auf der anderen Seite.
Der Schein
In einer westfälischen Privatsammlung befindet sich seit ca. 15 Jahren eine Quittung zur Pränumeration, ein sogenannter „Pränumerationsschein“. Erworben wurde er auf einem Trödelmarkt bei einem Grafikhändler als Kuriosum, als ein ungewöhnlicher historischer Zahlungsbeleg mit einem Bezug zur Stadt Münster. Die exakte Provenienz dieses Scheins ist unbekannt, da ein Zusammenhang zu einem namentlich bekannten Nachlass nicht mehr herzustellen ist.
Der auf Büttenpapier im Buchdruck als ausfüllbares Formular (sog. Akzidenzdruck oder Gelegenheitsdrucksache) mit Textleerstellen gedruckte Schein (18 x 10 cm), der mit einer rechteckigen Bordüre versehen ist, weist auf der Rückseite im linken Bereich Klebereste auf. Er war daher ursprünglich irgendwann einmal irgendwo ein- oder aufgeklebt.
Der Text lautete: Nro. (42 Herr Vicarius Lowinckloh) Auf ein Exemplar R. P. Nicolai Schaten S. J. Historia Westphaliae & Annalium Paderbornentium Pars I. & II. pränumeriert, und den Praenumerations=Preis mit 5 Reichsthaler bezahlt, worab hiemit quitire / Münster den (1) März 1772.
(Strunck zugleich und 1 1/3 rt bezahlt / AW Aschendorf)
Diese vielfältigen und ausführlichen Textteile liefern zahlreiche Hinweise, die im Einzelnen jedoch erst aufgeschlüsselt werden müssen, um die gesamte Aussagekraft der Angaben verstehen und verdeutlichen zu können:
Demnach hat am 1. März 1772 ein Vicarius Lowinckloh als 42. Pränumerant bei A. W. Aschendorff in Münster vier Bücher vorbestellt und hierfür vermutlich den kompletten Kaufpreis im Voraus bezahlt, nämlich 5 + 1 1/3 = 6 1/3 Reichstaler. Autor der ersten drei Bände mit den Titeln „Historia Westphaliae“ sowie „Annalium Paderbornentium“ (Teil 1 und 2) war R. P. Nicolai Schaten, der dem Jesuitenorden (S. J. = Societas Jesu / Gesellschaft Jesu) angehörte. Zum ebenfalls – erst nachträglich – bestellten vierten Buch wird lediglich der Autor Strunck erwähnt.
Der Buchverlag Aschendorff
Der Aussteller der Quittung war Anton Wilhelm Aschendorff (1735–1804) aus Münster, Mitbegründer des noch heute als Unternehmensgruppe Aschendorff unter dem Dach der Aschendorff GmbH & Co. KG bestehenden Medienunternehmens. Sein Vater Wilhelm Aschendorff (1688–1768) war in Drensteinfurt geboren, gelernter Buchbinder und seit 1708 Geselle in der Buchbinderei von Thomas Udinck in Münster. 1717 heiratete er dessen Witwe. Unter seinem Namen führte er den Betrieb an der Bergstraße 5 weiter, zusätzlich handelte er mit Papier- und Schreibwaren, Druckwerken und verlegte erste Bücher im Selbstverlag, besaß allerdings noch kein Privileg für eine eigene Buchdruckerei. Seit 1757 war sein Sohn Anton Wilhelm im Betrieb tätig. Bereits 1762 hatte die Familie Aschendorff den Versuch unternommen neben der Buchbinderei auch Bücher selbst drucken zu dürfen, was vom Domkapitel Münster abgelehnt wurde. Der neu gewählte Fürstbischof Maximilian Friedrich Reichsgraf von Königsegg-Rothenfels (1708–1784) bewilligte dies überraschend am 13. September 1762. Die Familie übernahm daraufhin bereits einen Tag später für 900 Taler die Nagelsche Buchdruckerei, der das Druckprivileg aberkannt worden war, mit allen notwenigen Einrichtungsgegenständen, u. a. zwei Druckpressen, Schrifttypen, Satzregale, Druckzubehör und größere Papiervorräte. Die neue Druckerei wurde im Haus am Roggenmarkt eingerichtet. Das erste Buch des neuen Verlages erschien bereits 1763, eine medizinische Abhandlung.
Nach dem Tod des Vaters 1768 konzentrierte sich Anton Wilhelm auf den Buchverlag (seine Mutter übernahm die Buchbinderei). Durch mehrere Ehen, u. a. mit einer Kaufmanns- und einer Juristentochter, stieg der Handwerkersohn sozial auf und zog in ein Haus am Roggenmarkt, wo er unter anderem auch mit Spielkarten und Kolonialwaren handelte.
Zwischen 1768 und 1820 druckte und verlegte Aschendorff immerhin 180 Werke, demnach etwa vier bis fünf Bücher pro Jahr, vor allem Gebet- und Andachtsbücher, Bücher zu theologischen Themen, aber auch Dissertationen, historische Werke und andere Fachbücher. 1771 erschien das für Münsters Stadtgeschichte bedeutende Werk von Hermann Kerssenbroick, die Geschichte der Wiedertäufer. Bereits 1775 wurde Aschendorff zum Universitätsbuchdrucker ernannt, wobei die damals geplante Universität tatsächlich erst 1780 ihren Betrieb aufnahm.
Der Pränumerationsschein von 1772 stammt also aus der Frühzeit der Aschendorffschen Buchdruckerei. Das eingeworbene Geld wurde offenbar zur Finanzierung der Druck- und Papierkosten benötigt. Zu dieser Zeit standen Aschendorff lediglich die beiden 1762 erworbenen veralteten Druckerpressen der Nagelschen Druckerei zur Verfügung, weitere und moderne konnten erst jeweils in den Jahren 1783, 1794, 1804, 1816 und 1819 erworben werden.
Im Oktober 1770 hatte die verwitwete Mutter Aschendorffs den Buchbindergesellen Josef Benedikt geheiratet. Anton Wilhelm erwarb daraufhin im März 1771 für immerhin 2.650 Reichstaler ein neues Domizil an der Salzstraße 57, in dem er nun seine Druckerei und seinen Verlag einrichtete. Der Erwerb der Druckereiausstattung 1762 und des Gebäudes 1771 hatten offenbar dazu geführt, dass der Verleger Liquiditätsprobleme bekam. In dem von ihm selbst herausgegebenen Münsterischen Intelligenzblatt erschien am 20. November 1771 folgende Anzeige: „Heute und Morgen, Vormittags um 9 und Nachm. um 2 Uhr, sollen in der Aschendorfschen Behausung auf der Salzstraße einige Bücher (wovon das Verzeichnis beym Intellig. Comt. Ohnentgeldlich zu haben) den Meistbietenden verkauft werden.“ Dieser Buchverkauf könnte der Versuch gewesen sein, kurzfristig an Bargeld zur Finanzierung neuer Projekte zu gelangen.
Eine andere Möglichkeit zur Lösung seiner Liquiditätsprobleme stellte der Pränumerationsschein dar. Auch andere Verleger in Münster versuchten auf diese Weise an Geld zu kommen. Im Intelligenzblatt vom 1. Dezember 1771 rufen der Hofbuchhändler und Verleger Phillip Heinrich Perrenon und der Buchhändler Joseph Anton Benedict verschiedene Werke zur Pränumeration auf, betonen dabei aber gleichzeitig, dass die Scheine nur gegen Goldmünzen abgegeben würden. Aschendorf selbst warb interessanterweise für die auf seinem Schein genannten Titel nicht in seiner Zeitung, zumindest in den Ausgaben von November 1771 bis Mai 1772 ist keine diesbezügliche Anzeige zu finden.
Die pränumerierten Bücher
Die drei 1772 auf dem Schein zuerst erwähnten Bücher sind tatsächlich erschienen, wenn auch erst Jahre später. In allen Fällen handelt es sich nicht um Erstausgaben aktueller Autoren, sondern um sogenannte editio altera (Zweitausgabe / Neuauflagen). Exemplare sind z. B. in der Universitäts- und Landesbibliothek in Münster sowie im Stadtmuseum Münster erhalten.
Der Autor aller drei Bände, Nicolaus Schaten (1608–1676), Mitglied des Jesuitenordens, wurde in Heek geboren, genoss seine Schulbildung in Münster, trat 1627 dem Jesuitenorden in Münster bei und war seit 1638 Lehrer am Gymnasiums Paulinum, das vom Jesuitenorden geführt wurde. Später ging er nach Paderborn, verfasste dort als Historiograph eine Geschichte Westfalens und die Geschichte des Bistums Paderborn in drei Bänden, die alle erst lange nach seinem Tod (posthum) erschienen: Die Geschichte Westfalens erschien sogar erstmals 1773 – also erst 97 Jahre nach seinem Tod – bei Aschendorff in Münster. Dem Verleger entstanden also keine Kosten für Autorenhonorare, da er auf bereits vorliegende Ausgaben oder Manuskripte zurückgreifen konnte.
Historia Westphaliæ In Qua In Primis De Origine Gentis, De Priscis Hujus Regionis Populis, De Bellis, Quæ Cum Romanis Pro Libertate Gesserunt: Deinde De Origine Francorum, Rhenum Inter & Visurgim Degentium, & Quomodo Hi Pro Libertate Gentis; et Limite Rheni Tuendo Decertarunt: Tum De Saxonia Christiana, A Carolo M. Post Trecennale Bellum Subacta, Atque Ad Fidem Christi Perducta Summa Fide Ac Diligentia Tractatur. Opus Posthumum, Auctore R. P. Nicolao Schaten S. J., … Monasterii Westphalorum (Münster), Antonii Wilhelmi Aschendorf MDCCLXXIII (1773)
Pränumeriert waren die beiden ersten Bände der Geschichte des Bistums Paderborn mit der Chronologie bis zum Jahr 1500, die bereits 1693 und 1696 in Paderborn erschienen waren.
Annalium Paderbornensium Pars Prima (Teil 1) Complectens Inprimis Fusiorem Episcoporum Paderbornensium, Deinde Succinctiorem Historiam Reliquorum Per Westphaliam et Saxoniam... / Auctore R. P. Nicolao Schaten S. J., … Monasterii Westphalorum (Münster) Antonii Wilhelmi Aschendorf, MDCCLXXV (1774); Pars Secunda (Teil 2) MDCCLXXV (1775)
Der dritte Band, der den Zeitraum 1500 bis 1618 umfasst, war erst 1741 erschienen, fortgeführt von Schatens Ordensbruder Michael Strunck (1677–1736), der in Paderborn geboren wurde. Damit erklärt sich die handschriftliche Ergänzung auf dem Pränumerationsschein: „Strunck zugleich und 1 1/3 rt bezahlt“. Aschendorff stellte auch den dritten Band in Aussicht und ließ sich diesen im Voraus bezahlen.
Wie die vorliegenden Bände 1 und 2 in den Vorbemerkungen erkennen lassen, erhielt Aschendorff das unbedingt erforderliche Privilegium hierfür von Fürstbischof Maximilian Friedrich erst am 13. November 1771. Es ist in beiden Bänden abgedruckt. Dabei handelt es sich um das Imprimatur (lat. für „Es werde gedruckt“, auch Imprimi potest „Es kann gedruckt werden“). Bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil (1962/1965) war es für jede Veröffentlichung von Lehrern der katholischen Theologie, von Priestern oder Ordensangehörigen erforderlich und musste von einem Bischof der römisch-katholischen Kirche ausgestellt werden. Erst nach Ausstellung des Privilegs konnte Aschendorf daher mit der Planung für die Buchveröffentlichungen beginnen.
Welche Informationen sich basierend auf dem Pränumerationsschein noch zusammentragen lassen, darüber informiert der zweite Teil dieses Beitrags, den wir wie gewohnt im Alltagskultur-Blog veröffentlichen werden.
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