Provenienzforschung im Sommersemester 2022: Ein Seminar am Institut für Kulturanthropologie / Europäische Ethnologie der Universität Münster

02.08.2022 Peter Herschlein

Das Seminar auf Exkursion in Hamburg, Juli 2022.

Bettina Bock von Wülfingen

Provenienzforschung ist ein aktuell viel besprochenes Arbeitsgebiet, das jede Sammlung und jedes Museum betrifft – vom kleinen städtischen Archiv bis zu großen Museen. Die Provenienzforschung beschäftigt sich mit der Frage, auf welchen (redlichen oder unredlichen) Wegen Sammlungsgegenstände in die Sammlung gefunden haben. Besonders Museen mit kolonialhistorisch-anthropologischem Hintergrund sind heute ebenso herausfordernden wie legitimen Eigentumsfragen ausgesetzt, wenn es um die Herkunft ihrer Objekte geht. Wenn Museen sich diesen Fragen stellen, betreiben sie Provenienzforschung. Sie erschließen und untersuchen ihr hauseigenes Archiv daraufhin, wie die musealen Objekte in das Museum kamen, was in manchen Fällen dazu führt, dass Objekte an den Herkunftsort zurückgegeben werden. Bei besonders selbst-reflexivem Ansatz verändert die Provenienzforschung auch die Ausstellungspraxis: In solchen Fällen wird das problematische Erbe nicht verschwiegen, sondern die Kurator:innen lassen das Publikum an dessen Geschichte teilhaben.

Ganz im Einklang mit groß angelegten, institutionenübergreifenden Ausstellungs-, Dokumentations- und Forschungsvorhaben verschiedener LWL-Kultureinrichtungen in 2022/23 zum Themenfeld (Post)Kolonialismus, wegen der Relevanz des Themas und des großen Bedarfs an entsprechend ausgebildeten Absolvent:innen bietet das Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie regelmäßig Lehrveranstaltungen zur Geschichte des Sammelns und Ausstellens im BA- und im MA-Studiengang an.

Eine solche Veranstaltung zur „Provenienzforschung“ fand im Sommersemester 2022 statt und läuft zugleich weiter, indem Studierende in der vorlesungsfreien Zeit Studienarbeiten dazu anfertigen: die BA-Veranstaltung im Modul 4 „Berufsfelder“ der Dozentin PD Dr. Bettina Bock von Wülfingen.

 

In der Ausstellung „Benin. Geraubte Geschichte“ im MARKK in Hamburg sieht die Seminargruppe all jene Objekte im Original, zu deren Herkunft im Seminar schon einiges gelesen und diskutiert worden war.

Neben der Lektüre von Texten zu der Frage, wie Objekte aus den deutschen Kolonien vor allem Afrikas und der Südsee in deutsche Sammlungen gelangten und wie heute Museen damit umgehen, präsentierten Studierende eigene kleine Untersuchungen zu Objekten, die sie auf Online-Portalen von Museen und Universitätssammlungen ausgewählt hatten. Hierzu werden in der vorlesungsfreien Zeit Studienarbeiten angefertigt. Übungshalber schreiben die Studierenden diese als kurzen Forschungsantrag. Mit diesem praxisnahen Format begründen sie durch Verweis auf den Forschungsstand und die eigenen explorativen Recherchen, warum das jeweilige Objekt einer intensiven Provenienzforschung bedarf. Dabei handelt es sich beispielsweise um, so die Titel der ebenfalls hinterfragten  Inventarisierungsbezeichnungen, einen „Mantel eines Derwisch“ im Ethnologischen Museum Berlin oder um einen „Köcher der Haussa“ in der Ethnologischen Sammlung der Georg-August-Universität Göttingen.

Das Seminar arbeitete vertiefend mit Exkursionen zu zwei Museen in Hamburg und Bremen, die in der weltweiten Debatte zu Raubgut in Museen besondere Aufmerksamkeit finden: Im Museum am Rothenbaum. Kulturen und Künste der Welt (MARKK) in Hamburg findet derzeit unter der Leitung der Direktorin Barbara Plankensteiner, die sich seit vielen Jahren in der Provenienzforschung und für Restitutionen einsetzt, die Ausstellung „Benin, geraubte Geschichte“ statt. Sie zeigt die komplette Benin-Sammlung des MARKK und damit einen kleinen Teil von tausenden Objekten aus Bronze, Elfenbein und Holz, die durch britische Truppen 1897 aus dem königlichen Palast des Königreichs Benin, heute Nigeria, geraubt wurden und seither weltweit in Museen verstreut lagern. Voraussichtlich Ende dieses Jahres soll die gesamte Sammlung nach Nigeria restituiert werden. Nach einer Führung durch die Ausstellung nutzte die Seminargruppe die Gelegenheit, andere Dauerausstellungen zu besichtigen. Dazu gehört auch eine selbstreflexive Ausstellung des MARKK, die Besucher:innen auffordert, sich zu fragen, wie die Zukunft solcher ehemaligen Kolonialsammlungen heute vorstellbar ist.

 

Das MARKK fragt sein Publikum, welche Rolle ehemalige Völkerkunde-Museen und ihre Besucher:innen in Zukunft spielen können.

Die zweite Exkursion führte zum Überseemuseum Bremen. Dort wurde die Seminargruppe von der Provenienzforscherin Bettina von Briskorn durch das Museum geführt, deren Buch über die Herkunft der Objekte der Afrika-Abteilung des Hauses bereits im Seminar durchgearbeitet worden war.

Auf der Glasbrücke, die vom historischen Museumsbau des Überseemuseums zum Neubau „Übermaxx“ führt, der das Magazin beherbergt, erklärt Bettina von Briskorn einige der meterhohen Steintafeln in den Außenmauern des 1896 eröffneten Museums, auf denen die Reichtümer der deutschen Kolonien im Bild gepriesen werden.

Anhand einiger Objekte im Schaumagazin führte Bettina von Briskorn vor, wie wenig aussagekräftig die Angaben auf den historischen wie heutigen Beschriftungen an und zu den Objekten sind, wenn es um deren Herkunft und um die Art ihres Erwerbs geht.

Auch in das Archiv des Überseemuseums durfte die Seminar-Gruppe einen Blick werfen.

Das Überseemuseum Bremen gehört zu den ersten Museen mit kolonialer Geschichte, dessen damaliger Direktor Herbert Ganslmayer ab Mitte der 1970er Jahre Bestandsübersichten für die Provenienzforschung publizierte, und das lange vor der aktuellen Debatte einzelne Objekte restituierte. Heute gibt das Überseemuseum der Kritik an seiner früheren Raub- und Sammlungsgeschichte viel Raum in den Ausstellungen. In der Dauerausstellung mit dem Titel „Spurensuche“ präsentiert das Übersee-Museum die eigene weit über einhundertjährige Geschichte mit Blick darauf, wie die Exponate ihren Weg in das Museum fanden – ob sie gekauft, geschenkt, geraubt oder getauscht wurden.  

In der Ausstellung „Spurensuche“ des Überseemuseums.

Dazu gehören auch Objekte aus mehrfach problematischem Herkunftskontext, wie Bettina von Briskorn an einem Zeremonienstab der Edo aus Benin ausführte, einer von tausenden geraubter Gegenstände aus dem Königspalast in Benin, die seit 1897 weltweit im Handel waren. Das Stück war, wie ihre Forschung ergeben hatte, im Jahr 1918 dem Museum durch den jüdischen Antiquitätenhändler Erich Freuthal vermacht worden, unter der üblichen Bedingung, dass der Name des Schenkers in der Ausstellung genannt wird. Unter nationalsozialistischer Leitung hatte der Name entfernt werden sollen, wogegen der Anwalt von Freuthal einschritt. Schließlich kaufte das Museum das Objekt unter Wert, so dass der Name nicht zu erscheinen hatte.   

 

Das Schaumagazin des Überseemuseums zeigt, wie tausende von Objekten im Museum sonst unsichtbar in den Depots gelagert werden.

Nach der Besichtigung der Spurensuche-Ausstellung berichtete Bettina von Briskorn aus ihrer gegenwärtigen Arbeit. Sie sondiert die Möglichkeit der Restitution einer Sammlung von 125 Schädeln, die aus Papua-Neuguinea stammen. Diese mit Wachs und Ton übermodellierten sogenannten Ahnen-Schädel wur­den vermutlich im Zeit­raum zwischen 1884 und 1914/18, al­so wäh­rend der Ko­lo­ni­al­zeit im da­ma­li­gen Deutsch-Neu­gui­nea, ge­sam­melt. Nun gilt es, die genauere Herkunft und den Sammlungskontext zu ermitteln.  

Bettina von Briskorn gewährt Einblicke in das Original-Archivmaterial des Überseemuseums.

Im Anschluss an die gemeinsamen zweieinhalb Stunden in Führung und Vortrag erkundeten die Studierenden selbstständig das Überseemuseum. Einige hatten bereits, wie schon im MARKK, Kontakt zu Mitarbeiter:innen im Überseemuseum hergestellt, um mehr über Objekte zu erfahren, die aus einem ähnlichen Herkunftskontext stammten, wie jenes, das sie jeweils für ihre Studienarbeit ausgewählt hatten.

Mit solchen Veranstaltungen wird das Institut auch in Zukunft interaktiv mit Studierenden die Geschichte des Sammelns und Ausstellens praxisnah und wissenschaftlich vertieft vermitteln. Zugleich trägt diese Lehre dazu bei, die historisch einst enge Zusammenarbeit zwischen Universitäten und Museen wiederaufzunehmen – zum Vorteil für beide Seiten.

Fotos: Bettina Bock von Wülfingen

Kategorie: Aus der Uni

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