In Westfalen blieb es allerdings zunächst verhältnismäßig ruhig. Hier schien es selbst in den 1520er-Jahren noch eine „heile katholische Welt“ gegeben zu haben. Eine Krise der Frömmigkeit kann jedenfalls auf keinen Fall beobachtet werden. Denn wie sollte man sonst erklären, dass zwischen 1520 und 1525 für das Gotteshaus in Stift Quernheim ein neuer Passionsaltar angeschafft wurde? Erst unter der Äbtissin Irmgard von Tecklenburg, die ihr Amt von 1532 bis 1567 bekleidete, soll die protestantische Lehre ins Stift eingedrungen sein.
Irmgard brach – durchaus bildmächtig – mit den Formen des alten Glaubens: Zwischen 1548 und 1555 wurde das romanische Langhaus der Kirche abgerissen und im gotischen Stil neu erbaut. Außerdem versetzte die Gemeinde den erst wenige Jahre vorher erworbenen Altar. Fortan befand sich dieser im Chor und nicht mehr in der Vierung. Dabei wurde der Altaraufsatz leicht umgebaut. Die linken und rechten äußeren Klappen ließ man abmontieren und oberhalb des mittleren Altarteils wieder anbringen. Die vorreformatorische Verwendung des Klappaltars, das heißt die Unterscheidung zwischen einer Alltags- und einer Festtagsseite, war liturgisch nicht mehr erforderlich. Der alte Altar erfuhr demnach mit der Reformation einer Umdeutung und das Bildprogramm wurde neu arrangiert; gleichwohl blieb ein radikaler Bildersturm aus. Nach wie vor blickten also viele Heilige auf die Gläubigen – obschon solche Heilige, die nicht biblisch bezeugt waren, jegliche Sonderstellung verloren hatten. Der Altar in Stift Quernheim zeugt somit davon, dass die Reformation im Herforder Land keinen abrupten Wechsel der Bekenntnisse bedeutete, sondern dass religiöse Übergangsformen bestanden und alte religiöse Ausstattungsgegenstände weiterhin verwendet wurden.
Übrigens: Noch im neuen Gotteshaus hielt der Kaplan und Mönch Cord im Jahr 1558 eine lateinische Messe – nach katholischem Ritus. Und 1559 lässt sich letztmalig nachweisen, dass eine neue Stiftsdame im Stift gemäß alter Tradition eingekleidet wurde. Beide Aspekte weisen auf das Fortbestehen traditioneller Formen des Glaubens bis in die 1550er-Jahre hin. Vom Nebeneinander der neuen und der vormaligen Lehre kündet ferner der Grabstein des letzten katholischen Stiftsverwalters Johannes Tornemann aus dem Jahr 1550. Auf dem Stein ist der Verstorbene als katholischer Priester dargestellt: Er trägt ein Messgewand und hält in der linken Hand einen Abendmahlskelch sowie eine Hostie. Die rechte Hand erhebt der Kleriker zum Segen.
Katholisch oder evangelisch? – Das war also die Frage. Sie sollte noch lange Jahre unbeantwortet bleiben. Bei der Suche einer Nachfolgerin der 1585 verstorbenen Äbtissin Anna von Schagen eskalierte der Streit, in den sich unter anderem die Bischöfe beziehungsweise Landesherren von Minden und Osnabrück einmischten. Der Mindener Oberhirte griff massiv in das klösterliche Wahlverfahren ein, indem er die frommen Frauen zwang, Elisabeth von Grothaus zu wählen. Der Osnabrücker Bischof reagierte seinerseits, indem er den Besitz der geistlichen Institution beschlagnahmte. Die Jungfern sahen keinen anderen Ausweg, als nach Herford zu fliehen – doch auch dort wussten sie von Not und Drangsal zu berichten. Die einst geachteten Damen galten einigen Bürgern – wie beschrieben – als „Himmelhuren“.
Der reformatorische Wandel stellte eine außergewöhnliche Phase in der Geschichte des Stifts Quernheim dar. Es sollten wieder andere, mal ruhige, mal turbulente Zeiten anbrechen. Wer mehr darüber erfahren möchte, wie die Stiftsdamen Leben und Alltag bestritten, der ist herzlich zum Kreisgeschichtsfest eingeladen, das am 29. und 30. April 2023 in Stift Quernheim stattfindet. Dort werden viele weitere Geschichte(n) über die frommen Frauen erzählt.
Zuerst erschienen in: HF-Magazin. Heimatkundliche Beiträge aus dem Kreis Herford, Nr. 121, 15.06.2022, herausgegeben von der Neuen Westfälischen.
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