Schwerpunkt Fotografie: Reisefotoalben als alltagskulturelle Quelle

16.07.2024 Marcel Brüntrup

Christiane Cantauw

Reisefotografien gehören zu den am häufigsten überlieferten fotografischen Quellen. Sie machten im 20. Jahrhundert mehr als die Hälfte aller privaten Aufnahmen aus.

Speziell die Zeit des aufkommenden Massentourismus seit den 1950er Jahren schlug sich auch in den überlieferten Fotografien und Reisefotoalben nieder. Als Hochzeit der Reisealben kann die Zeit zwischen 1950 und 1975 bezeichnet werden. In dieser Periode trafen sich die enorme Reiselust, die Ausstattung der meisten deutschen Haushalte mit einem Fotoapparat und die Praxis, das Fotografierte zu ordnen, zu beschriften und in Alben einzukleben.

Trotz oder vielleicht auch wegen ihrer massenhaften Verbreitung und Überlieferung sind Reisefotoalben keine leicht zu erschließende historische Quelle. Informationen über ihre Entstehung (Wer hat fotografiert? Wer hat das jeweilige Album erstellt? In welchem zeitlichen Abstand zur Reise? Wurden nur eigene oder auch fremde Fotografien verwendet? …) und Nutzung (Für wen wurde das Album angelegt? Wer hat es sich wie oft angesehen? Wo wurde es aufbewahrt? …) sind vielfach nicht überliefert. Auch über die Besitzer:innen der Reisefotoalben ist vielfach nichts bekannt.

Zumindest die Frage nach den Eigentümer:innen kann im Falle der 15 Alben, die das Archiv für Alltagskultur 2023 übernommen hat, beantwortet werden. Sie gehörten den Schwestern Erna und Elisabeth W. aus Geseke. Vater der 1928 und 1929 geborenen Schwestern war ein Schuhmacher und Schuhgeschäftsbetreiber. Die einander eng verbundenen Mädchen verlebten nach eigenen Aussagen eine glückliche Kindheit in Geseke. Nach ihrer Ausbildung arbeitete Elisabeth von 1959 bis 1985 als Sportlehrerin am Geseker Gymnasium Antonianum. Erna ergriff den Beruf einer Sparkassenangestellten. Sie leitete von 1960 bis 1989 eine Filiale der Sparkasse in Ehringhausen. Beide Schwestern blieben unverheiratet. Sie reisten oft und gern und konnten sich das auch finanziell leisten.

Umfang und Umschlaggestaltung der 15 Reisefotoalben der Schwestern Elisabeth und Erna W. aus Geseke sind sehr disparat. (Foto: Cantauw)

Belege ihrer Reisetätigkeit von etwa 1955 bis 1999 sind 15 Reisefotoalben, deren Umfang und Aussehen höchst unterschiedlich ist. Neben Alben im DIN-A5-Format finden sich auch größere Exemplare im Hoch- oder Querformat mit 30 Seiten und mehr. Die äußere Gestaltung der Alben entspricht dem jeweiligen Stil der Zeit: grafische Muster, schlichtere Farbverläufe, Blumenmuster, opulente Zeichnungen und schlichte Kunstledereinbände lassen Rückschlüsse darauf zu, in welchen Dekaden sie gekauft wurden. Anhand der Jahreszahlen, die vielfach zu den Urlaubsreisen vermerkt wurden, lässt sich das leicht überprüfen.     

Abgesehen von ganz wenigen Familienfotografien, die sich manchmal auf zwei oder drei Seiten nach oder vor einer Serie von Urlaubsaufnahmen befinden, handelt es sich bei allen Alben um Urlaubsalben. Je nach Seitenzahl wurden pro Album eine oder auch mehrere aufeinanderfolgende Reisen fotografisch dokumentiert. Die Gestaltung der einzelnen Seiten ist über den gesamten Zeitraum hinweg eher schlicht. Der Text beschränkt sich mit wenigen Ausnahmen auf die Nennung des Urlaubsortes und des Jahres, in dem die Reise stattfand. Neben schwarzweißen und später auch farbigen Fotografien wurden auch Ansichtskarten, zugekaufte Fotografien und Prospektmaterial eingeklebt. Souvenirs wie gepresste Pflanzen, Geldstücke oder -scheine oder Eintrittskarten sind in den Alben der Schwestern W. bis auf eine Ausnahme (zwei Falter) nicht enthalten.

Auf vielen Seiten findet sich ein Mix aus Prospektmaterial, Postkarten und Fotografien. (Foto: Cantauw)

Reisen in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts

Bei näherer Betrachtung der Alben, von denen die frühen leider nicht datiert sind, erfährt man einiges über das Reiseverhalten der Schwestern. Sie unternahmen seit den 1950er Jahren jährlich mindestens eine Urlaubsreise. Die Alben aus den 1950er Jahren, die überwiegend oder ausschließlich Schwarzweiß-Fotografien enthalten, dokumentieren Reisen nach Juist, aber auch in die Niederlande und an die Cote d’Azur. In den folgenden Jahrzehnten kommen Destinationen in ganz Europa (beispielsweise Algarve, Madeira, Sizilien oder die Schweiz), in Nordafrika (Kanarische Inseln, Tunesien, Marokko) oder in den USA (Neuengland) hinzu.

Gereist wurde anscheinend nie allein, sondern zu zweit oder in größeren Gruppen (Gruppenreise). Eine Präferenz für ein bestimmtes Reiseverkehrsmittel lässt sich bei den Schwestern Erna und Elisabeth W. nicht feststellen: Die Alben dokumentieren Busreisen, Kreuzfahrten, eine Segeltour sowie Zug- und Flugreisen.

Die Alben der Schwestern W. spiegeln weniger die Liebe zum PKW für die Fahrt zum Urlaubsort als vielmehr eine ungewöhnliche Bandbreite an Reiseverkehrsmitteln. (Foto: Cantauw)

Damit widersprechen sie einem Trend, der den bundesdeutschen Tourismus wie kaum ein anderer kennzeichnet: die Liebe zum Auto, auch und gerade für die Fahrt in den Urlaub. PKW finden sich in den 15 Reisealben der Geschwister W. nur selten. Dafür sind die ungewöhnliche Bandbreite an Reiseverkehrsmitteln und die relativ frühe Kreuzfahrt (1977) durchaus bemerkenswert.

Erinnerungen festhalten

Über die Provenienz der Fotografien in den Alben lässt sich leider nur wenig sagen. Es ist nicht bekannt, ob die Schwestern (oder eine von ihnen) einen eigenen Fotoapparat besaßen und wenn ja, ab wann. Dass der Besitz eines eigenen Fotoapparates nicht unbedingt erforderlich war, um eine Reise fotografisch zu dokumentieren, lässt sich aber auch an diesem Bestand belegen. Von Mitreisenden gekaufte Abzüge, Ausschnitte aus Prospekten, vor Ort angekaufte Fotografien oder Postkarten konnten eigene Aufnahmen durchaus ersetzen. Dies veranschaulicht unter anderem eine Gangway-Fotografie von 1981.

Gangway-Fotografien waren bis in die 1980er Jahre hinein eine gute Einnahmequelle für Fotograf:innen. (Repro: Cantauw)

Das Foto zeigt ein Mitglied der Crew und eine der beiden Schwestern W. hintereinander beim Verlassen einer Maschine von Hapag Lloyd. Dazu wurde in dem Album handschriftlich notiert: „Ibiza August 1981“. Die 10 x 14 Zentimeter große Farbaufnahme, deren Farben in den vergangenen 43 Jahren verblasst zu sein scheinen, wurde vermutlich von einem auf dem Flughafen tätigen Fotografen gefertigt. Die Aufnahme solcher Gangway-Fotografien war bis in die 1980er Jahre hinein ein verbreitetes Tätigkeitsfeld von an Flughäfen tätigen Berufsfotografen. Sie fotografierten die Flugreisenden beim Verlassen des Flugzeugs auf der Gangway. Während diese am Kofferband auf ihr Gepäck warteten, wurden die Filme entwickelt und Abzüge der einzelnen Fotografien gefertigt. Auf Schautafeln angebracht wurden diese dann den Fluggästen zum Kauf angeboten.

Solche Gangway-Fotografien waren ein willkommener Beleg für die Teilnahme an einer Flugreise, die in den frühen 1980er Jahren durchaus noch etwas Besonderes war. Zudem knüpfte man mit dem Sujet auch an Fotografien von Prominenten oder Models an, wie sie in Illustrierten und in der Werbung gezeigt wurden. Anders als diese Aufnahmen handelt es sich bei den massenhaft gefertigten Gangway-Fotografien aber um Spontanaufnahmen: Die Personen auf der Gangway schauen nicht in die Kamera, sondern sie sind darauf konzentriert, die Treppe hinabzusteigen. Dabei tragen sie beispielsweise im Duty-free-Shop erworbene Waren oder eilig zusammengerollte Unterlagen in der Hand.

Kreuzfahrttourist:innen in Rettungswesten...
...und bei der Abendunterhaltung an Bord. (Foto: Cantauw)

Auch eine Bildserie von 1977 belegt die Praxis der Schwestern W., (professionell gefertigte) Fotografien anzukaufen. Es handelt sich um neun Farbfotografien im Format 13 x 18 Zentimeter. Zusammen mit Ausschnitten aus Prospektmaterial und Postkarten sind die neun Fotografien die einzigen Belege für eine als „Apfelfahrt“ bezeichnete Ostsee-Kreuzfahrt, die die beiden Schwestern auf der MS „Frederico C.“ der italienischen Reederei Costa Crociere unternommen haben. Das Schiff war seit 1958 in Dienst, seit 1968 wurde es ausschließlich für Kreuzfahrten genutzt. Es bot Platz für 1.279 Passagiere und 400 Crew-Mitglieder – im Vergleich zu heutigen Kreuzfahrtschiffen ist das sehr wenig. Die Fahrt führte laut einer in das Fotoalbum eingeklebten Notiz von Kiel über Danzig, Leningrad, Helsinki und Stockholm nach Kopenhagen. Von dort ging es mit einem Sonderzug zurück in die Heimat. Offenbar wurden von einem an Bord tätigen Fotografen Aufnahmen mit dem Aufdruck „t/n Frederico ‚C‘, 1977, IAO“ nebst Apfelsymbol verkauft. Sie zeigen Gruppen von Passagieren – darunter die Schwestern W., mit Schwimmwesten, bei einer Abendunterhaltung, beim Essen oder Trinken, auf der Gangway und im Salon. Postkarten von architektonischen Sehenswürdigkeiten und Ausschnitte aus einem Prospekt dokumentieren das Ausflugsprogramm.

Und sonst?

Die Fotografien in den 15 Alben bieten viele Ansatzpunkte für Forschungen. Sie zeigen, woran man sich im Kontext einer Reise erinnern wollte. Bei Elisabeth und Erna sind das Mitreisende und Einheimische, Sehenswürdigkeiten, Architektur (Unterkunft, besondere Gebäude), gesellige Momente und nicht zuletzt auch die Flora und Fauna. Immer wieder wurden Pflanzen oder Tiere fotografiert. Diese Aufnahmen belegen ein Interesse an der natürlichen Umgebung, das auch weniger spektakuläre Einzelheiten einschließt.

Fotografien der Flora und Fauna am Urlaubsort belegen ein Interesse an der natürlichen Umgebung, das auch weniger spektakuläre Einzelheiten einschließt. (Foto: Cantauw)
Die einheimische Bevölkerung findet sich eher seltener unter den Fotomotiven. (Foto: Cantauw)

Viele der Fotografien in den Alben sind nicht spontan entstanden. Solche gestellten Aufnahmen verraten vieles über die Menschen vor und hinter der Kamera: Wo und wie nehmen sie (auf Anweisung?) Aufstellung, welche Haltungen nehmen sie ein, wie wird eine Gruppe arrangiert? All das ist auch zeitlichen Veränderungsprozessen unterworfen: So sind wohl manche Posen den Prominenten in den Illustrierten abgeschaut, manche Aufstellung scheint den Tipps aus Fotohandbüchern zu folgen oder ahmt ikonische Gemälde nach.

Ein Großteil der Fotografien entspricht dem romantischen Blick. Flora und Fauna, Strand und Felsen, Ausblicke von Berggipfeln – all das scheint Erna und Elisabeth W. durchaus interessiert zu haben. Faules Strandleben gehörte – schaut man sich die Reisealben an – eher nicht zu ihren bevorzugten Urlaubsaktivitäten, ebenso wenig übrigens wie das systematische Abarbeiten von Sehenswürdigkeiten.

Und noch etwas anderes fällt auf: Schlüsselszenen der Reise wie die An- und Abreise finden sich eher selten einmal in den Alben der Schwestern. Das ist durchaus ungewöhnlich, gehören doch Fotografien wie der Einstieg in den Zug, das Winken von Bord einer Fähre, die Pause während einer Autoreise oder die Landschaftsaufnahme aus dem Flugzeugfenster zu den beliebtesten Sujets der Urlaubsfotografie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Der Ritt der beiden Schwestern W. auf einem Kamel während ihres Aufenthaltes auf der Atlantikinsel Lanzarote wurde von einem ortsansässigen Fotografen aufgenommen. (Foto: Cantauw)

Die 15 Alben sind ein Beleg für die individuellen Aneignungs-, Verarbeitungs- und Erinnerungsprozesse von zwei ungebundenen Frauen, deren wirtschaftliche Verhältnisse und körperliche Fitness es zuließen, dass sie unterschiedliche Reiseformen, Reiseverkehrsmittel und touristische Angebote ausprobieren konnten. Für Elisabeth und Erna W. war das pauschaltouristische Angebot, von dem sie überwiegend Gebrauch machten, ein Markt der Möglichkeiten, der ihnen genügend Raum für Experimente ließ, aber zugleich auch Sicherheit bot. Auch das belegen die Alben.

Literatur

Cord Pagenstecher (2012): Der bundesdeutsche Tourismus. Ansätze zu einer Visual History: Urlaubsprospekte, Reiseführer, Fotoalben 1950–1990. (Studien zur Zeitgeschichte, Bd. 86) Hamburg, 2. korrigierte und aktualisierte Auflage.