Anastasia Margariti-Börgel
Am 9.9.2022 wurde in diesem Blog eine Tanzkarte aus dem Bestand des Alltagskultur-Archivs vorgestellt. Solche Tanzkarten eröffnen uns auch einen Blick auf zeitgenössische Tanzkultur(en) und Körperwahrnehmungen.
Anastasia Margariti-Börgel
Am 9.9.2022 wurde in diesem Blog eine Tanzkarte aus dem Bestand des Alltagskultur-Archivs vorgestellt. Solche Tanzkarten eröffnen uns auch einen Blick auf zeitgenössische Tanzkultur(en) und Körperwahrnehmungen.
Das auf der Tanzkarte dokumentierte Ballprogramm umfasste folgende Tänze, die sich gelegentlich wiederholten:
Im „II. Theil“:
Der äußere Rahmen der Tanzveranstaltung war durch die Ballordnung abgesteckt. Sie gab die Richtlinien für die Durchführung eines Balles vor: erlaubter Personenkreis, An- und Abreisezeit der Gäste, Dauer des Balls, angemessene Be- oder Verkleidung (wenn es sich um einen Maskenball handelte) und enthielt unter anderem auch die Tanzordnung des Abends. Die Tanzordnung beinhaltete die für den Ball geplanten Tänze und regelte ihre Abfolge und Dauer. Sie hielt außerdem fest, zu welchem Zeitpunkt getanzt werden durfte und wann eine Pause eingelegt werden musste. Abweichungen von dem festgelegten Programm waren nicht vorgesehen und wenn der letzte Tanz in der Tanzordnung beendet war, die Gäste aber noch nicht gehen wollten, so begann man mit der Tanzordnung einfach von vorn (vgl. Fink, M.: Der Ball, S. 49-50).
Welche Tänze auf einem Ball in der westfälischen Provinz getanzt wurden, zeigt die Tanzkarte: Neben den beliebten Gruppentänzen (Polonaise, Quadrille …), die bei Tanzveranstaltungen um die Wende zum 20. Jahrhundert nicht fehlen durften, wurden auch Paartänze angekündigt, die als Teil der Gesellschaftstänze in der Kaiserzeit in Mode gekommen waren. Sie bildeten einen Wendepunkt in der Tanzkultur des ausgehenden 19. Jahrhunderts und wurden (wie im vorliegenden Fall auch) durch einen Tanzlehrer vermittelt. Dieser übte mit den Tanzschüler:innen die erforderlichen Schrittfolgen, die Körperhaltung und auch Verhaltensweisen ein, die für einen Ball als angemessen gelten durften.
Die Tanzkarte dokumentiert für die Wende zum 20. Jahrhundert noch ein quasi gleichberechtigtes Nebeneinander von Gruppen(paar)tänzen und Einzelpaartänzen. Erstere befolgten eine strikte Choreographie, die die Gruppe aller Tanzenden umfasste. Die Tänzer:innen fanden sich als Paare zu Gruppentänzen wie den Kontratänzen, beispielsweise Quadrille und Cotillon, zusammen. Wie sich die einzelnen Paare zu bewegen hatten, war streng reglementiert und doch sollte das Gesamtbild der Tanzenden einen spielerischen Charakter, Leichtigkeit und Lebhaftigkeit zum Ausdruck bringen. Vor allem den Cotillon, mit seinen unterschiedlichen ‚Neckereien‘ stellte man sich als Sinnbildlichung von Jugendlichkeit und Frische vor. Neben den Kontertänzen gab es aber auch Paartänze wie Polka oder Mazurka, die zwar in Paaren ausgeführt wurden, jedoch nicht die Intimität erforderten, die mit dem engen Körperkontakt beim Walzer verbunden war.
Für den Beginn eines Balls wurde meist eine Polonaise gewählt, weil diese einen feierlichen Charakter hatte. Unsere Karte mit der „Begrüßungs-Polonaise“ bestätigt diesen Usus.
Interessant am Programm des Lünener Abschlussballs ist die Tatsache, dass hier auch noch Menuett getanzt werden sollte. Dieser üppig stilisierte Paartanz mit seiner sehr komplexen Choreografie kann für das ausgehende 19. Jahrhundert als eher altmodisch gelten. Dies hinderte die Tanzschule aber nicht daran, mehrere Menuette in der Tanzordnung vorzusehen.
Trotz der Rückgriffe auf eher Veraltetes (Menuett) belegt die Tanzkarte auch die zunehmende Bedeutung des klassischen Paartanzes und verweist damit auf einen Umbruch in den sozialen Normen in Richtung einer Individualisierung. Der choreografierte Massenpaartanz eröffnete den Weg für Tänze, die zwar feste Schrittfolgen vorgaben, aber dennoch mehr Freiheiten für das einzelne Tanzpaar beinhalteten.
Eine Steigerung erfuhr diese Entwicklung durch nicht choreographierte Paartänze wie den Walzer. Dieser wurde wegen der körperlichen Nähe der Tanzenden zunächst als skandalös und ungehörig empfunden. Auf der anderen Seite war der Verzicht auf eine Choreographie der gesamten Gruppe von Tanzenden gar nicht anders möglich als durch ein Zusammenrücken der einzelnen Tanzpaare. Mehr als bei den Gruppentänzen drücken sich beim Walzer dann aber die Geschlechterrollen aus: Der Mann führt und übernimmt die Verantwortung, die Frau folgt und überlässt sich seiner Führung.
Die vorliegende Tanzordnung ist nicht nur ein Beleg für den Ablauf einer Tanzveranstaltung im ländlich geprägten Westfalen, sie zeigt auch Veränderungen, die auf eine Individualisierung hinauslaufen und eine sich wandelnde Wahrnehmung von körperlicher Nähe und Distanz ankündigen.
Literatur:
Fink, Monika (1996): Der Ball. Eine Kulturgeschichte des Gesellschaftstanzes im 18. und 19. Jahrhundert. Innsbruck [u.a.]: Studien-Verl. [u.a.].
Hoerburger, Felix (1960): Der Gesellschaftstanz. Wesen und Werden. Kassel, Basel, London, New York: Bärenreiter Verlag.
Schneider, Otto [Verfasser] (1985): Tanzlexikon. Volkstanz, Kulttanz, Gesellschaftstanz, Kunsttanz, Ballett, Tänzer, Tänzerinnen, Choreographen, Tanz- und Ballettkomponisten von den Anfängen bis zur Gegenwart. Mainz [u.a.]: Schott [u.a.].
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