„Rund um die Düppe“: Fotografische Dokumente traditioneller Milchwirtschaft von Adolf Risse

18.11.2022 Peter Herschlein

Frau Böhr geht zum Melken, Münster-Nienberge 1959, Foto: Adolf Risse (Archiv für Alltagskultur, Sign.: 0000.20974)

Christiane Cantauw

In der ersten Ausgabe von Graugold. Magazin für Alltagskultur, die im Juni 2021 erschien, wurde unter dem Titel „Rund um die Düppe“ eine Fotostrecke mit zehn Fotografien gezeigt, die der Fotograf Adolf Risse zwischen 1954 und 1959 in Münster-Nienberge und Münster-Roxel aufgenommen hat.

Die s/w-Fotografien zeigen verschiedene Arbeitsschritte der traditionellen Milchwirtschaft, angefangen vom Melken über den Transport der vollen Milchkannen (mundartlich „Düppen“) zur Milchbank an der Straße bis hin zum Abholen der leeren Kannen und deren Reinigung und Trocknung. Der Einsatz von Maschinen ist auf den Fotografien nicht zu sehen; alle Arbeitsschritte erfolgen noch händisch. Lediglich für die Abholung der Milchkannen wird in einem Fall der PKW genutzt, in dessen offenem Kofferraum die leeren Düppen zurück zum Hof gebracht werden.

Wer war der Urheber dieser Aufnahmen?

Adolf Risse wurde am 27. August 1919 als jüngstes Kind einer Gastwirtsfamilie im ländlich geprägten Münster-Nienberge geboren. Zum Familieneinkommen trag neben der Gastwirtschaft auch ein Landhandel bei. Nach dem Besuch der örtlichen Volksschule wechselte Risse zum in der münsterschen Innenstadt gelegenen Gymnasium Paulinum, wo er 1940 die Abiturprüfungen ablegte.  1937 trat er als damals 17 oder 18jähriger in die HJ ein. Vom 20. Januar 1940 bis zum 25. Oktober 1940 erhielt Risse eine militärische (Grund-)Ausbildung. 1941 starb sein Vater Heinrich Risse. Die Mutter Pauline Risse führte zusammen mit dem ältesten Sohn Ewald und der Tochter Paula die Gaststätte und den Landhandel weiter. Trotz der Kriegsjahre konnte die Familie es sich leisten, Adolfs Bruder Wilhelm ein Tiermedizin-Studium und Adolf ein Studium der Humanmedizin zu finanzieren, das dieser zum Wintersemester 1941/42 an der Universität München aufnahm. Für das Studium wurde Risse vom Kriegsdienst freigestellt. Zum Sommersemester 1942 wechselte er an die damalige Reichsuniversität Straßburg, wo er im September 1944 auch die Prüfungen zum Physikum ablegte. In den letzten Kriegsmonaten wurde Risse in Kriegslazaretten in den Niederlanden als Feld-Unterarzt eingesetzt. Nach Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft begann er 1945 sein klinisches Studium an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster, wo er in das sechste Hochschul- und Fachsemester eingestuft wurde. Neben den medizinischen Vorlesungen besuchte er zahlreiche Veranstaltungen der Germanistik, Kunstgeschichte und Geschichte. Im Januar 1949 legte Risse sein medizinisches Staatsexamen ab. Ab August 1949 arbeitete er unentgeltlich als sogenannter medizinischer Volontär an der Universitäts-Hautklinik in Münster. Eine Bezahlung wurde ihm dort erst im Oktober 1950 und dann auch nur für die Dauer eines Monats zuteil: Vom 1. bis zum 31. Oktober 1950 wurde er laut Personalakte der Universitäts-Hautklinik mit einer Pauschalvergütung von 150,- DM als wissenschaftliche Hilfskraft beschäftigt. Über weitere Beschäftigungsverhältnisse im medizinischen Bereich ist nichts in Erfahrung zu bringen.

Auf dem Weg zum Melken, Münster-Nienberge 1954, Foto: Adolf Risse (Archiv für Alltagskultur, Sign.: 0000.03742)

Fotografien als Dokumentation des Landlebens?

Offenbar hat Risse sich zu Beginn der 1950er Jahre beruflich umorientiert. Gründe hierfür konnten auch nach Recherchen vor Ort und in den einschlägigen Archiven nicht eruiert werden. Als sogenannter fester freier Mitarbeiter schrieb er seit dieser Zeit Presseartikel für die Westfälischen Nachrichten und die Münstersche Zeitung. Er war für die Berichterstattung über alle Ereignisse in Nienberge und Umgebung zuständig, die für die beiden Tageszeitungen relevant waren: Schützenfeste, Einweihungen, Karnevalssitzungen, „runde“ Geburtstage und Jubiläen aller Art, aber auch Unglücksfälle wie Brände oder Unfälle fielen darunter. Risse berichtete darüber in Text und Bild. Da er ein Zeilen- und ein Fotohonorar erhielt, war es für ihn besonders lukrativ, wenn neben seinen Texten auch eine oder mehrere Fotografien abgedruckt wurden, die er selbst mit seiner Leica aufgenommen hatte.

Die Fotografien erwiesen sich überdies als lukrativer Nebenerwerb, konnte Risse doch Abzüge vieler Ereignisse auch an seine Mitbürger:innen in Nienberge und Roxel verkaufen. In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre begann auch an die damalige Volkskundliche Kommission für Westfalen des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (heute Kommission Alltagskulturforschung) Fotografien zu verkaufen. Seit 1955 war Risse nämlich Mitarbeiter im Archiv für Westfälische Volkskunde. In dieser Funktion schrieb er Berichte über eine Reihe von Themen der Alltagskultur, zu denen er auch Fotografien einreichte. Für seine Beiträge erhielt er eine Aufwandsentschädigung. Auch bot er dem Archiv immer wieder Fotoserien an, die gegen ein Honorar angekauft wurden.

Milchbank, Münster-Nienberge 1954, Foto: Adolf Risse (Archiv für Alltagskultur, Sign. 0000.02460)

Adolf Risse starb 1979 in Nienberge. Jahrzehnte nach seinem Tod gelangte sein umfangreicher fotografischer Nachlass ins Archiv der Kommission Alltagskulturforschung. Zusammen mit den in den 1950er bis 1970er Jahren von Risse angekauften Fotografien verfügt die Kommission über fast 7.000 Aufnahmen des münsterischen Fotografen.

Da seine fotografische Tätigkeit für ihn eine wichtige Einnahmequelle darstellte, bemühte sich Risse, das zu fotografieren, was sich auch veräußern ließ: Das waren beispielsweise Aufnahmen von Schützenfesten, die er den Zeitungen und den Festant:inn:en anbot, oder Fotografien der traditionellen Landwirtschaft, die er an die Volkskundliche Kommission verkaufte, die in den 1950er und 1960er Jahren noch sehr an der Rettung der letzten Zeugnisse einer im Verschwinden begriffenen sogenannten Volkskultur und ihren visuellen Zeugnissen interessiert war. 

Insofern ist es auch interessant, was die Fotografien eben nicht zeigen: die auf vielen Höfen bereits eingesetzten Melkmaschinen, Massentierhaltung und Hochleistungskühe, Kälbermast, Kühlräume und Zentrifugen, die Milchlaster oder die Milchverarbeitung in den Molkereien. In den 1960er Jahren gehörte eine industrialisierte Milchwirtschaft bereits zur alltäglich erlebten Realität auf dem Land. Die Fotografien von Adolf Risse dokumentieren dagegen eine Alltagskultur, die nur noch von wenigen gelebt wurde.