Ein Land, wo trockenes Heidekraut wächst und in dem sich kein Vogel ernähren kann: Sandverwehungen in der Grafschaft Ravensberg

06.12.2024 Niklas Regenbrecht

Ein bekannter Stich von Johann Georg Rudolphi aus dem Jahr 1672 zeigt die Senne, in: Monumenta Paderbornensia, S. 232, Foto: Wikimedia Commons, gemeinfrei.

Sebastian Schröder

Die Bodenbeschaffenheit in der Grafschaft Ravensberg erwies sich in der Frühen Neuzeit als höchst heterogen. Nicht allerorten ließ sich die vorhandene Fläche landwirtschaftlich nutzen. Gewisse Gegenden waren für Siedlungszwecke weniger geeignet. Einen auf Vermehrung der Bevölkerung bedachten preußischen Landesherrn stellte dieser Fakt natürlich überhaupt nicht zufrieden. Geradezu folgerichtig versuchte die Obrigkeit, brachliegende Flächen „nutzbar“ zu machen, wie es damals hieß. An anderer Stelle wurde als Ziel ausgegeben, dass „in unserm geliebten Vaterlande keine Sand- und andere Wüste mehr anzutreffen seyn, sondern alle Grundstücke genutzet“ würden. Dabei bezog sich diese Begriffskategorie vor allem auf die Förderung landwirtschaftlicher Tätigkeit; Umweltaspekte besaßen noch keine politische oder gesellschaftliche Relevanz.

In den 1760er-Jahren diskutierten auch die Kriegs- und Domänenräte in Minden, wie man sogenannte Sandfelder oder Sandwehen urbar machen könne. In einem ersten Schritt befahlen sie ihrem Oberforstmeister von Grassow, Untersuchungen anzustellen, ob und an welchen Orten sich in den benachbarten Territorien Minden und Ravensberg Sandfelder befanden. Zur Beantwortung dieser Frage hatten die jeweiligen Ämter Stellung zu beziehen. Deren Antworten fielen entsprechend der Beschaffenheit des Landes höchst unterschiedlich aus. So bestünde im Amt Limberg der Grund vornehmlich aus Klei beziehungsweise Lehm; Sandschellen seien nicht vorhanden. Mitunter fehle es sogar manchmal an Sand. Im Amt Vlotho fänden sich ausweislich des amtlichen Berichts ebenfalls keine Sandverwehungen. Ganz anders verhielt sich dagegen die Situation im sparrenbergischen Amtsdistrikt Brackwede. In den Kirchspielen Brockhagen, Steinhagen und Brackwede erblickte Amtmann Johann Ernst Tiemann gleich mehrere Sandwehen. Vor allem in der Senne, also der Gegend zwischen Brackwede und der Landesgrenze zum Hochstift Paderborn, sei eine landwirtschaftliche Nutzung nicht denkbar. Zur Senne vermerkte Oberforstmeister von Grassow, dass dort „nichts als trokkenes Heide Kraut wächset, ja in diese[m] District sich sogar kein Vogel ernehren kan, auch ganz und gar keine Hude und Weide Platz greiffet.“

Im Amt Ravensberg war vor allem die Vogtei Versmold von Sandverwehungen betroffen, wie Amtmann Meinders der Kriegs- und Domänenkammer 1768 berichtete. Genauer gesagt handelte es sich um die Gegend, wo die Bauerschaften Peckeloh und Loxten an das Hochstift Münster grenzten. Schon vor ungefähr zwei Jahrzehnten hätte man die betroffenen Flächen „zum Bepflanzen an die Amts Unterthanen eingetheilet“. Einst zählten die Gründe zum gemeinschaftlichen Besitz der Bauerschaften. Da sie sich aber weder als Weide noch sonst landwirtschaftlich nutzen ließen, erschien es den Beteiligten vorteilhafter, diese Gemeinheiten mit der Auflage zu privatisieren, Fichten zu pflanzen. Dabei hatte der Landesherr eine dauerhafte Befreiung von Grundsteuern oder anderen Abgaben versprochen. An dieser Stelle zeigt sich, dass man den Vorkehrungen gegen das weitere Vordringen von Sandwehen einen höheren Stellenwert beimaß als möglicherweise zu erzielenden (Steuer-)Einnahmen. Zugleich wird deutlich, dass die landesherrlichen Behörden zwingend auf die Mitwirkung der Eingesessenen angewiesen waren, um der Natur Herr zu werden. Letztlich hatte natürlich auch die betroffene Einwohnerschaft selbst ein Eigeninteresse an den angestoßenen Maßnahmen. Oder, um mit den Worten von Amtmann Meinders zu sprechen: Durch das Pflanzen der Fichten sei der wirtschaftliche Ruin einiger Untertanen verhindert worden, „welchen der Sand bereits an die Gurgel gehen wolte.“ Insofern hätten sich die in den 1740er-Jahren angestoßenen Bemühungen als durchaus erfolgreich erwiesen, bilanzierte der Amtmann.

Dennoch fände sich noch immer eine Fläche von ungefähr 40 bis 50 Morgen oder umgerechnet zehn beziehungsweise 12,5 Hektar, die nicht mit Fichten kultiviert worden sei. Dass an diesen Orten bislang alle Versuche misslangen, dem Sand Einhalt zu gebieten, führte Meinders auf die Grenzlage zum Hochstift Münster sowie der Herrlichkeit Harkotten zurück. Dort würden keine Vorkehrungen getroffen, ein Vordringen des Sandes zu verhindern. Wenn der Wind aus dem Münsterland käme, „so wird der Sand herüber in dieses Territorium getrieben“, führte der Amtmann aus. Zudem lebten auf ravensbergischer Seite „arme, ohnvermögende Leute“, die nicht über entsprechende Mittel verfügen würden, Fichtensprösslinge oder -samen zu kaufen. Sie seien „blutharme Leute“, die ihren Lebensunterhalt mit Spinnen und Weben bestreiten müssten.

Zwar erklärte sich daraufhin die Kriegs- und Domänenkammer bereit, unentgeltlich Saatgut zur Verfügung zu stellen. Amtmann Meinders erachtete es unterdessen als erfolgsversprechender, die gesamte Fläche ebenfalls zu privatisieren – wie man es ja bereits mit anderen versandeten Gemeinheiten in der Vergangenheit getan hatte. Tatsächlich waren die Mindener Räte nicht abgeneigt, sodass im März 1768 der Versmolder Pfarrer von der Kanzel verkündete, „daß die noch übrige Sandwehen zum Bepflantzen mit Fichten […] untergebracht werden sollen.“ Dabei galten dieselben Konditionen wie in den 1740er-Jahren, das heißt, dass etwaigen Interessenten Abgabenfreiheit zugesichert wurde. In der Tat meldeten sich daraufhin mehrere Personen beim Amt, um ihre Bereitschaft zu bekunden. Der weitere Fortgang ist nicht bekannt.

Ende der 1760er-Jahre begannen die preußischen Landesbehörden in Minden und Ravensberg demzufolge, die Initiative zu ergreifen und entsprechende Verordnungen zu erlassen. Sie demonstrierten damit, dass sie gewisse Problemlagen erkannt hatten und ihrer Fürsorgepflicht nachkommen wollten. Allerdings muss man bedenken, dass die Bevölkerung vor Ort bereits zuvor eigenständig Strategien zur Bewältigung umweltbedingter Probleme angewandt hatte. Der Kampf gegen den Sand hatte also eine lange Geschichte – die nicht ausschließlich mit dem Wirken der Preußen zu tun hat.

Quelle: Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen, D 607/Kriegs- und Domänenkammer Minden, Nr. 2823: Urbarmachung der Sandfelder und Sandschallen, 1766–1790.

Die bisherigen Teile der Serie zur Kriegs- und Domänenkammer Minden:

Ein Dickicht voller Alltagskultur: Die preußischen Kriegs- und Domänenkammern in Westfalen im 18. Jahrhundert

Die Preußen wollen umsatteln: Zugochsen statt Pferde lautete die Devise

Erfindergeist in Minden und Ravensberg

Die Preußische Kriegs- und Domänenkammer und der Kampf gegen Viehseuchen

Bergbau in Bierde? Die Mindener Kriegs- und Domänenkammer und die Steinkohle

Die Glocken schweigen. Oder: „Gewitterableiter“ in preußischen Kammerakten

„Diebereyen“, „Zügellosigkeiten“ und „schwache Nerven“: Kriegs- und Domänenräte auf Reisen

Die Ärmel hochkrempeln: Die Kriegs- und Domänenkammer in Minden und die Impfung gegen die Pocken

Schädlich oder unentbehrlich? Die Mindener Kriegs- und Domänenkammer und die Debatte um das Laubsammeln in westfälischen Wäldern

Die Sorgen der Müller. Zur Geschichte der Hollweder Mühle im 18. Jahrhundert

Vormoderne Verkehrssünder: Reiter, Fuhrleute und Schlittenfahrer auf Mindener Straßen am Ende des 18. Jahrhunderts

„Eine wahre Gesundheits-Quelle“. Die Entdeckung schwefelhaltigen Wassers in Fiestel

Kein Herz und eine Seele: Grenzkonflikte zwischen Preußen und Osnabrück

Neue Heimat Ravensberg: Siedler in den Marken

Von Abbrüchen und Anschwemmungen: Wie die Weser die Landschaft im Mindener Land verändert hat

Den Strom bändigen: Die Kriegs- und Domänenkammer und die Weser

Wenn das Pferd beim Nachbarn weidet – Grenzkonflikte zwischen Dahlinghausen und Harlinghausen

Nach der Feier kommt der Frust: Ein Müller und die Landesbehörde

Das ravensbergische „Ziegenproblem“

Krumme Schnäbel und spitze Klauen: Die Bekämpfung von „Raubtieren“ in der Grafschaft Ravensberg

Wie Paulus gegen die Korinther: Jäger, Jagdexzesse und Wilddiebe in der Grafschaft Ravensberg