Ein Land, wo Eicheln und Bucheckern wachsen: Schweinemast im Mittwald während der Frühen Neuzeit

02.12.2022 Niklas Regenbrecht

Eichelmast bei Hallenberg, Archiv für Alltagskultur in Westfalen, 1988.02447.

Sebastian Schröder

Herbstzeit ist Obstzeit! Äpfel, Birnen, Pflaumen und Nüsse wachsen während der Sommermonate und können geerntet werden, sobald die Tage kürzer und die Temperaturen niedriger werden. In diesem Jahr erfreuten volle Körbe das Auge des Betrachters. Das Obst ist prächtig gediehen.

Sau mit Ferkel, Fotograf: Herwig Happe, Archiv für Alltagskultur in Westfalen, 2005.03568.

Schon vergangene Generationen schauten im Herbst erwartungsfroh in die Baumkronen. Doch ihr Augenmerk galt nicht bloß Äpfeln und Birnen. Vielmehr achteten sie auch darauf, ob Buchen und Eichen ebenfalls reiche Frucht trugen. Eicheln und Bucheckern dienten nämlich zur Ernährung des Viehs. Dabei ist zu bemerken, dass sich bis in das 19. Jahrhundert hinein große Teile der landwirtschaftlichen Fläche nicht in Privatbesitz befanden, sondern gemeinschaftlich genutzt wurden – dazu zählten unter anderem die Eichen- und Buchenwälder. Die Zeitgenossen nannten diese Gebiete Mark, Gemeinheit oder Allmende. Alle berechtigten Einwohner eines Markenverbandes durften in der Gemeinheit beispielsweise Bau- oder Brennholz suchen oder ihr Vieh weiden und ernähren. Eine ganz wichtige Form der Fütterung der Tiere stellte in diesem Zusammenhang die Eichel- oder Bucheckernmast dar. Im Herbst, wenn diese Früchte von den Bäumen fielen, trieben die Menschen neben anderem Vieh ihre Schweine in den Wald, wo die Borstentiere eigenständig auf die Suche nach Fressbarem gingen – das Pflücken oder Abschütteln von Eicheln und Bucheckern stand übrigens unter markenherrlicher Strafe und war strengstens untersagt. An diesem Punkt zeigt sich: Obwohl die Mark während der Frühen Neuzeit den Berechtigten zur gemeinschaftlichen Nutzung zur Verfügung stand, mussten, ehe die Schweine in den Gehölzen umherlaufen durften, gewisse Regeln beachtet werden, wie ein Blick in die Überlieferung zum sogenannten Mittwald belegt. Der Mittwald war gemeinsamer Markengrund der Stadt Lübbecke und des Kirchspiels Rahden. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand hier die Flüchtlingsstadt Espelkamp.

Schweine, Havixbeck 1975, Fotograf: Helmut Orwat, Archiv für Alltagskultur in Westfalen, 2006.00868.

Nicht immer herrschte Eintracht unter den Nutzern dieser Gemeinheit. Stattdessen zofften sich nicht selten die Lübbecker und Rahdener – vor allem in puncto der Schweinemast gerieten die Bauern aneinander. Denn man beschuldigte sich häufig gegenseitig, zu viele Borstentiere in die Mark zu treiben – es gab schlicht zu wenige Bucheckern oder Eicheln, um alle Schweine hinreichend ernähren zu können, sodass sich die hungrigen Tiere auch andere Pflanzen fraßen. So behaupteten am 6. Oktober 1607 die Lübbecker in einem Brief an den Mindener Bischof als Landesherrn, dass die Rahdener die Lübbecker Schweine „mit gewalt und gewerter hand“ aus dem Mittwald getrieben hätten. Damit nicht genug: Die Rahdener sollen sogar den Tieren die Köpfe blutig geprügelt und die Besitzer der Schweine „unerbärmlich geschlagen und verwundet“ haben. Kein Geringerer als der Amtmann zu Rahden habe zu den Gewalttaten aufgerufen und die Einwohner seines Hoheitsbereichs dazu aufgefordert, die Lübbecker Bürger und Hirten aus dem Mittwald zu jagen und zu verfolgen. Auch den Hirten erging es nicht besser: Sie seien 1605, so klagten die Lübbecker, „mit schimpfflichen worten angegriffen und zu halß und zanck getrawet“. Etliche Jahre hernach, 1647, wurde der Schweinehirte Johan Doldt geschlagen, gezüchtigt und übel bedroht.

Um ihre Konflikte zu lösen, verhandelten die Markennutzer in jedem Jahr das Kontingent der zu mästenden Schweine neu, wobei die Menge der zur Verfügung stehenden Früchte als Bemessungsgrundlage zurate gezogen wurde. Außerdem konnte der Fall eintreten, dass die Eicheln und Bucheckern „wormstechlich“, also von Würmern befallen waren, sodass die Mast geringer ausfiel. Man unterschied diesbezüglich drei Kategorien: „volle“, „halbe“ und „Springmast“. Je nachdem, wie viele Früchte vorhanden waren, durften die Landwirte nur eine bestimmte Zahl an Schweinen im Mittwald mästen.

Als Verhandlungsort der Lübbecker und Rahdener Markenherren galt seit jeher die sogenannte „Wichlinge bey dem Creutze“. Vermutlich handelte es sich dabei um eine Weggabelung oder um einen Platz in der Nähe eines Steinkreuzes an der Grenze zwischen Lübbecker und Rahdener Gebiet. Stets traf man sich unter freiem Himmel. Als erste Handlung gaben beide Parteien der Gegenseite gepfändete Kessel, Töpfe, Äxte, Barten oder Schaufeln unentgeltlich zurück. Darauf verhandelten sie die Anzahl der einzutreibenden Schweine. 1606 durften die Lübbecker Markengenossen fünfzig bis achtzig Tiere mästen, ein Jahr später waren es einhundert – in diesen Zeitraum bewerteten die Zeitgenossen die Ausbeute an Eicheln und Bucheckern als lediglich äußerst mäßig. „Springmast“ lautete das Stichwort. Dagegen war es den Lübbeckern gestattet, bei voller Mast 300 und bei halber Mast immerhin noch 150 Borstentiere in die Mark einzutreiben.

Abbildung aus dem um 1310 entstandenen Queen Mary Psalter. Die Schweinehirten schlagen die Eicheln von den Bäumen, British Library, gemeinfrei.

Die Diskussionen und teils blutigen Auseinandersetzungen im Mittwald sind gleich in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich: Einerseits belegen sie die Relevanz des Markenwesens im Rahmen der vormodernen Landwirtschaft. Andererseits zeigt sich, dass sich die Ernährung des Viehs, hier speziell der Schweine, in der Moderne erheblich gewandelt hat. Freilaufende Borstentiere in den Wäldern waren im Herbst ein gewohnter Anblick. Und schließlich kann man aufgrund der jährlich neu verhandelten Eintreibungsquote Rückschlüsse auf die natürlichen Wachstumsbedingungen sowie die Menge des Viehs ziehen.

 

Literatur:

Johanna R. Regnath, Das Schwein im Wald. Vormoderne Schweinehaltung zwischen Herrschaftsstrukturen, ständischer Ordnung und Subsistenzökonomie, Ostfildern 2008; Sebastian Schröder, Die Lübbecker Mark. Die Organisation städtischer Markenherrschaft im Minden-Ravensberger Land (1570–1700), Münster 2018.