Soweit unsere Unterhaltung. Acht Tage später vernimmt man plötzlich vom Lande her den Lärm von einigen Trommeln. Die preußische Kavallerie, die in der Stadt in Garnison lag, steigt Hals über Kopf zu Pferde und zieht sich zurück. Zwei- oder dreihundert französische Jäger kommen zu dem Tor herein, das nach Varlar führt und das demjenigen, an dem die Franzosen üblicherweise hätten eintreffen müssen, gegenüber liegt. Sie begeben sich auf den Platz, stellen eine Leiter an die Mauer, nehmen das Wappenschild des Fürsten von Salm herunter und setzen an seine Stelle das Wappen des Fürsten Murat, Herzogs von Berg, den sie zum Landesherrn der Stadt und der dazugehörigen Gebiete erklären. Das Schriftstück dieses Gesichtes wurde entsiegelt und bestätigte sich in allen Punkten. Der Leser mag davon denken, was er will, aber meine Aussage enthält die Wahrheit.“
Dieses Vorgesicht nimmt Bezug auf die Besetzung Coesfelds durch französische Truppen im Jahre 1803. Dem gerade erst durch den Reichsdeputationshauptschluss eingesetzten neuen Landesherrn, dem Grafen von Salm-Horstmar, wurde die Landesherrschaft entzogen und seine kleine Grafschaft wurde Teil des Großherzogtums Berg, welches der Schwager Napoleons, Joachim Murat, regierte.
Heute glaubt wohl kaum noch ein Westfale an solche Vorgesichte. Aber der Mythos vom Zweiten Gesicht blieb lebendig. Er liefert den Stoff und vor allem den Titel für spannende Herdfeuerabende, unterhaltsame Stadtführungen, diverse Kriminalromane und sogar ein Theaterstück zum „dritten Auge der Westfalen“.
Quellen:
Mémoires de l’Abbé Baston, Chanoine de Rouen, d’aprés le manuscrit original pubié pu la Société d’Histire Contemporaine par M. l’Abbé Julien Loth et M.Ch.Verger, Tome III 1803-1818. Paris, Alphonse Picard et Fils, Libraires de la Société d’Histoire Contemporaine, Rue Bonaparte 82, 1899.
Heinrich Weber (Hrsg.): Coesfeld um 1800 – Erinnerungen des Abbé Baston. (= Beiträge zur Landes- und Volkskunde des Kreises Coesfeld, Heft 3). Coesfeld 1961.
Franz Jostes: Westfälisches Trachtenbuch. Volksleben und Volkskultur in Westfalen. Zweite Auflage, bearbeitet und erweitert von Martha Bringemeier. Münster 1961, S. 94
Karl Schmeing: Das Zweite Gesicht in Niederdeutschland. Wesen und Wahrheitsgehalt. Leipzig 1937.