Steinzeugtafel aus Trödlerladen gab Rätsel auf oder: Warum es sich lohnt, hartnäckig zu bleiben

03.05.2022 Niklas Regenbrecht

Am 3. August 2021 haben wir die Leserinnen und Leser dieses Blogs gebeten, uns zu einem Objekt aus einem Trödelladen Auskunft zu geben (Artikel hier).

Gemeinsam mit Kennern der Materie waren wir bereits zu der Annahme gelangt, dass die rätselhafte Steinzeugtafel etwas mit der Herstellung von Springerle, einem in Süddeutschland verbreiteten Gebäck zu tun haben könnte. Ähnlich wie Spekulatius werden Springerle mit Hilfe von Modeln hergestellt. Vor etwa vierzig Jahren waren solche Gebäckformen und Model in der Volkskunde ein beliebtes Forschungsfeld. Doch mittlerweile sind die Kolleginnen und Kollegen, die sich damit ausgekannt haben, im Ruhestand und ihre Nachfolger:innen haben sich anderen Themenfeldern zugewandt.    

Rätselhaft schienen allen Befragten und Leser:innen des Blogs das Material, die Positivform der Steinzeugtafel (Springerle werden in Negativformen hergestellt) und  vor allem auch die Zusammenstellung der Bildmotive. Nun hat unser Mitglied Bernd Thier einen neuen Anlauf gewagt und kann alles schlüssig erklären.

Die unbekannte Steinzeugtafel.

Bernd Thier:

Bei dem keramischen Relief müsste anhand des Originals zunächst geprüft werden, ob es sich tatsächlich um Steinzeug handelt. Die Fotos sprechen eher für klingendhartgebrannte weiße Irdenware mit einer rotbraunen Engobe. Der in den lederharten Ton vor dem Brand eingedrückte und später leicht verwischte Stempel COPIE impliziert, dass es sich um die Kopie eines historischen Objektes handeln soll. Die ebenfalls eingedrückte kaum erkennbare Herstellermarke (einer Töpferei oder Tonwarenmanufaktur) ist bisher ungedeutet.

Bei einer „Kopie“ eines historischen Objekts würde man eigentlich eine Art Replik vermuten, d. h. das wie auch immer gestaltete Original wäre daher ebenfalls aus Keramik hergestellt, identisch groß und in der Farbigkeit ähnlich. Dies dürfte allerdings bei dem vorliegenden Stück nicht der Fall sein. Historische keramische Reliefs dieser Art mit 21 verschiedenen Kleinmotiven sind nicht bekannt.

Die gesamte halbindustrielle Machart deutet auf eine Herstellung der „Kopie“ in den 1970er/1980er Jahren hin, eine Zeit, in der massenhaft historisch aussehende „Repliken“ als reine Dekoartikel für die Wohnzimmer gutsituierter Bildungsbürger produziert und über Fachgeschäfte und Kaufhäuser vertrieben wurden, u.a. Kopien historischer Zinn-, Messing-, Bronze oder Glasgefäße, Mörser, Fliesen, Kacheln, niederländische Fayencen und vor allem auch historische Grafiken. Die beiden Löcher auf der Rückseite des Reliefs deuten auf die Aufhängung an einer Wand hin, was für das „Original“ sicherlich ursprünglich nicht der Fall war.

Um was handelt es sich aber nun? Das Relief zeigt – in positiver Darstellung – in sieben Zeilen 21 kleine Motive. Stilistisch lassen sich die meisten an den Beginn des 19. Jahrhundert datieren, u.a. anhand der Uniformen der abgebildeten Soldaten, der Form der Kanone, der Kutsche und u.a. anhand der Gestaltung des Schaukelpferdes mit dem Knaben. Andere Motive sind antikisierend und zeigen Szenen aus der Bibel.

Es handelt sich somit nicht um eine fortlaufende Bildergeschichte, da die Abfolge inhaltlich und auch historisch keinen Sinn macht. Zu sehen sind vor allem bäuerliche Szenen (Einbringen der Ernte, Frau beim Melken, Transport von Gänsen), ein Liebespaar im Schlitten und eines auf einer Bank, Soldaten mit einer Kanone, ein Schäfer mit Schafen, spielende Kinder und ein stark vereinfachtes Segelschiff.

Der Begriff COPIE führt bei der Suche nach dem Original in die Irre. Das zugrundeliegende „Original“ wies nämlich keine positiven, sondern negative Reliefs auf, denn es handelt sich um eine Form (ein sog. Model / eine Matrize) aus Holz zur Herstellung von figürlichen Backwerken wie Lebkuchen, Spekulatius oder hier aufgrund der geringen Größe am wahrscheinlichsten für sogenannte Springerl, die zu besonderen Festtagen aufwändig hergestellt wurden. Auch Marzipanreliefs zur Dekoration von Kuchen oder Pasteten wurden in solchen Modeln abgeformt.

Vermutlich ist das „Original“ daher ein sogenanntes Springerlmodel aus Holz (also eine negative Form) aus der Zeit zwischen etwa 1800 und 1820, von dem das keramische Relief direkt oder vermutlich indirekt über Zwischenmodelle und Model (Patritzen bzw. Matritzen) in Serie abgeformt wurde. Die Ausformung von 21 verschiedenen Leckereien am Original erklärt auch die bunte Mischung der Motive, die dann alle getrennt voneinander weiterverarbeitet, verteilt, weiter verziert (ggf. bemalt) und dann verzehrt wurden. Überliefert ist beispielsweise, dass derartige Motive aus Zuckermasse in der Biedermeierzeit z. B. Weihnachtsbäume zierten.

Aus den 1970/1980er Jahren sind unzählige industriell herstellte Holzmodel-Imitationen von Spekulatiusformen bekannt, teilweise sogar aus braun eingefärbtem Wachs, als vollkommen unbrauchbare reine Dekoartikel. In diesen Zusammenhang muss daher auch das vorliegende Relief eingeordnet werden. Es sollte etwas Heimeliges, Vertrautes, Altertümliches und Nostalgisches – in Erinnerung an die „gute alte Zeit“ – in die Wohnung bringen. Modern würde man so etwas mit den Begriffen „Landhausstil“, „Retrolook“ oder „Vintage“ bezeichnen.

Das zugrundeliegende – negative – Original könnte aus einem Museum stammen, aber auch aus einer Privatsammlung oder einem Firmenarchiv. Vielleicht wird man es zufällig eines Tages identifizieren können.

 

Als Literatur zu solchen Modeln sei u.a. auf folgende Arbeiten verwiesen:

Herbert Kürth, Kunst der Model. Kulturgeschichte der Back- und Hohlformen, Gütersloh 1981.

Agathe und Adolf Saile, Mode auf Modeln. 400 Jahre Modegeschichte, Königsbach-Stein 1988.

Elke Knittel, Modelschätze, entdeckt und vorgestellt von Elke Knittel, mit Fotos von Rolf Maurer, Tübingen 2005.

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Schlagworte: Bernd Thier · Sachgut