Die gesamte halbindustrielle Machart deutet auf eine Herstellung der „Kopie“ in den 1970er/1980er Jahren hin, eine Zeit, in der massenhaft historisch aussehende „Repliken“ als reine Dekoartikel für die Wohnzimmer gutsituierter Bildungsbürger produziert und über Fachgeschäfte und Kaufhäuser vertrieben wurden, u.a. Kopien historischer Zinn-, Messing-, Bronze oder Glasgefäße, Mörser, Fliesen, Kacheln, niederländische Fayencen und vor allem auch historische Grafiken. Die beiden Löcher auf der Rückseite des Reliefs deuten auf die Aufhängung an einer Wand hin, was für das „Original“ sicherlich ursprünglich nicht der Fall war.
Um was handelt es sich aber nun? Das Relief zeigt – in positiver Darstellung – in sieben Zeilen 21 kleine Motive. Stilistisch lassen sich die meisten an den Beginn des 19. Jahrhundert datieren, u.a. anhand der Uniformen der abgebildeten Soldaten, der Form der Kanone, der Kutsche und u.a. anhand der Gestaltung des Schaukelpferdes mit dem Knaben. Andere Motive sind antikisierend und zeigen Szenen aus der Bibel.
Es handelt sich somit nicht um eine fortlaufende Bildergeschichte, da die Abfolge inhaltlich und auch historisch keinen Sinn macht. Zu sehen sind vor allem bäuerliche Szenen (Einbringen der Ernte, Frau beim Melken, Transport von Gänsen), ein Liebespaar im Schlitten und eines auf einer Bank, Soldaten mit einer Kanone, ein Schäfer mit Schafen, spielende Kinder und ein stark vereinfachtes Segelschiff.
Der Begriff COPIE führt bei der Suche nach dem Original in die Irre. Das zugrundeliegende „Original“ wies nämlich keine positiven, sondern negative Reliefs auf, denn es handelt sich um eine Form (ein sog. Model / eine Matrize) aus Holz zur Herstellung von figürlichen Backwerken wie Lebkuchen, Spekulatius oder hier aufgrund der geringen Größe am wahrscheinlichsten für sogenannte Springerl, die zu besonderen Festtagen aufwändig hergestellt wurden. Auch Marzipanreliefs zur Dekoration von Kuchen oder Pasteten wurden in solchen Modeln abgeformt.
Vermutlich ist das „Original“ daher ein sogenanntes Springerlmodel aus Holz (also eine negative Form) aus der Zeit zwischen etwa 1800 und 1820, von dem das keramische Relief direkt oder vermutlich indirekt über Zwischenmodelle und Model (Patritzen bzw. Matritzen) in Serie abgeformt wurde. Die Ausformung von 21 verschiedenen Leckereien am Original erklärt auch die bunte Mischung der Motive, die dann alle getrennt voneinander weiterverarbeitet, verteilt, weiter verziert (ggf. bemalt) und dann verzehrt wurden. Überliefert ist beispielsweise, dass derartige Motive aus Zuckermasse in der Biedermeierzeit z. B. Weihnachtsbäume zierten.
Aus den 1970/1980er Jahren sind unzählige industriell herstellte Holzmodel-Imitationen von Spekulatiusformen bekannt, teilweise sogar aus braun eingefärbtem Wachs, als vollkommen unbrauchbare reine Dekoartikel. In diesen Zusammenhang muss daher auch das vorliegende Relief eingeordnet werden. Es sollte etwas Heimeliges, Vertrautes, Altertümliches und Nostalgisches – in Erinnerung an die „gute alte Zeit“ – in die Wohnung bringen. Modern würde man so etwas mit den Begriffen „Landhausstil“, „Retrolook“ oder „Vintage“ bezeichnen.
Das zugrundeliegende – negative – Original könnte aus einem Museum stammen, aber auch aus einer Privatsammlung oder einem Firmenarchiv. Vielleicht wird man es zufällig eines Tages identifizieren können.
Als Literatur zu solchen Modeln sei u.a. auf folgende Arbeiten verwiesen:
Herbert Kürth, Kunst der Model. Kulturgeschichte der Back- und Hohlformen, Gütersloh 1981.
Agathe und Adolf Saile, Mode auf Modeln. 400 Jahre Modegeschichte, Königsbach-Stein 1988.
Elke Knittel, Modelschätze, entdeckt und vorgestellt von Elke Knittel, mit Fotos von Rolf Maurer, Tübingen 2005.