„das Vieh davon nicht kann unterhalten werden“. Eine Supplik gibt Einblick in die bäuerliche Lebenswelt des ausgehenden 17. Jahrhunderts

14.09.2021 Niklas Regenbrecht

Digitalisat der ersten Seite der Supplik. Bild: Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen.

Christof Spannhoff

Im Bestand „Akten der Grafschaft Tecklenburg“, der sich in der Abteilung Westfalen im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen in Münster befindet, hat sich ein nur wenige Zeilen langes Schriftstück erhalten, das allerdings einen tiefen Einblick in die regionale ländliche Lebenswelt zum Ende des 17. Jahrhundert gibt. Es handelt sich um einen Bitt-Brief (Supplik), den der Bauer Hermann Hasenkamp aus Lengerich-Wechte am 3. Juli 1673 an seinen Landes- und Grundherrn richtete. Darin bat er den damaligen Grafen Moritz von Bentheim-Tecklenburg (1615–1674) um einen Gefallen: Hasenkamp berichtete, dass seine Hofstätte mit nur wenig „Wiesengewächs“ ausgestattet sei, weshalb er sein Vieh – 1643 waren es laut Schatzungsregister vier Pferde, vier Kühe und ein Rind – nicht ausreichend versorgen könne, wenn er nicht auch seine Felder zusätzlich zur Weide nutzen könne. Der Graf möge ihm gestatten, seine Tiere auf seinen Teil des Wechter Eschs treiben zu dürfen, sobald er seinen Roggen geerntet habe. Hasenkamp könne damit nicht warten, bis auch die übrigen an der Eschflur Beteiligten ihr Getreide eingebracht hätten, weil ansonsten die Brochterbecker Bauern, besonders Oelrich, Schloes und Stalford, ihr Vieh ebenfalls auf den Acker zur allgemeinen Stoppelweide ließen und dann für seine Tiere kaum etwas übrigbliebe. Hasenkamp versprach – neben einem „Geschenck nach Kräfften“ an den Landesherrn – darauf zu achten, dass sein Vieh das noch auf dem Halm stehende Korn der anderen Bauern verschone. Zudem ersuchte er darum, dass seine in der Nähe befindlichen Pferde „von Kriegsleuten nicht genommen“ würden.

Dieses Anliegen des Bauern Hasenkamp beleuchtet mehrere Aspekte der damaligen Landwirtschaft: Erstens wurde noch kein ausreichender Futter- und Wiesenbau betrieben. Das Vieh musste auf den wenigen, zumeist schlechten Grasflächen oder in den gemeinen Markenwäldern geweidet werden. Dort konnte man aber nicht beliebig viele Tiere versorgen, sondern jeder Berechtigte hatte nur ein gewisses Kontingent zur Verfügung, das sich an der Größe der Hofstelle orientierte.

Zweitens wurde Getreide auf Gemeinschaftsäckern angebaut, die im nördlichen Westfalen „Esch“ genannt wurden. Diese bestellte man vorwiegend mit Roggen („ewiger Roggenbau“). Die Esche waren hauptsächlich in lange Flurstücke (Langstreifenfluren) unterteilt. Wegen des unbeweglichen Streichbretts des sogenannten Beetpflugs konnten die Erdschollen nur nach einer Seite gekippt werden. Der Pflug musste deshalb immer wieder an die Ackerseite zurückgebracht werden, an der man zu pflügen begonnen hatte, um eine neue Furche ziehen zu können. Dieses Vorgehen war dann mit einer Leerfahrt verbunden. Um die Anzahl dieser Rückfahrten und den Aufwand des Wendens zu verringern, pflügte man, solange das Gelände es zuließ, in einer Richtung. Auf diese Weise entstanden die langen Ackerstreifen. Später behielt man diese alte Flurform bei, auch wenn es nun Pflüge mit beweglichem Streichbrett gab.

Das gemeinschaftliche Beackern der Esche war dadurch bedingt, dass die Bauern beim Pflügen „zusammenspannten“, sich also mit den Zugtieren für den Pflug gegenseitig aushalfen. Es wird vermutet, dass hier die eigentlichen Ursprünge der Nachbarschaften liegen, die anfänglich Flurgemeinschaften darstellten. Die gemeinsame Feldarbeit bedeutete aber auch, dass die Flurnachbarn zu gleicher Zeit die Esche bestellen und abernten mussten (Flurzwang). Der Wunsch Hasenkamps stand allerdings dieser Gewohnheit entgegen, weil durch die unmittelbare Nachnutzung, also die Stoppelweide des Viehs, das Getreide der übrigen Bauern gefährdet war.

Drittens ist festzustellen, dass eine neue Landesgrenze anscheinend nicht die ursprüngliche Flurberechtigung behinderte. Seit 1547/48 gehörte das nahe Brochterbeck, das heute ein Stadtteil Tecklenburgs ist, nicht mehr zum Territorium der Grafschaft Tecklenburg, sondern zur Obergrafschaft Lingen, die Ende des 17. Jahrhunderts unter oranisch-niederländischer Herrschaft stand. Einige Brochterbecker Bauern hatten aber über 125 Jahre Nutzungsrechte am Esch in Lengerich-Wechte behauptet, der in der Grafschaft Tecklenburg lag.

Digitalisat der zweiten Seite der Supplik. Bild: Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen.

Viertens scheint Hasenkamp, der einen Halberbenhof besaß, recht allein, also ohne Gesinde, gewirtschaftet zu haben. Denn um sein Rindvieh weiden zu können, musste er auch seine Pferde mitführen, die er offenbar nicht unbeaufsichtigt auf der Stätte zurücklassen wollte. Hier werden unmittelbare Kriegserfahrungen der zurückliegenden Jahre eine Rolle gespielt haben. Zwischen 1672 und 1678 wütete gerade der „Holländische Krieg“, in den auch die Fürstbistümer Münster und Osnabrück, aber natürlich auch die Obergrafschaft Lingen als oranisches Gebiet involviert waren. Großes Vertrauen in Soldaten hatte Hasenkamp jedenfalls nicht, wenn er den Tecklenburger Grafen darum bat, seine Pferde unbehelligt zu lassen. Denn von fremdem Kriegsvolk ist in seinem Schreiben nicht die Rede. Es dürfte sich vielmehr um die angeheuerten Söldner des Grafen handeln, denen der Bauer ebenfalls nicht über den Weg traute.

Obwohl Hasenkamps Wunsch bereits im Ansatz mehrere Konflikte mit den benachbarten Bauern heraufbeschwor, erfüllte der Graf seinem Eigenhörigen am 14. Juli die Bitte für das betreffende Jahr. Moritz von Bentheim-Tecklenburg lag das wirtschaftliche Wohlergehen seines Untertanen und Eigenhörigen näher, als das der „ausländischen“ Brochterbecker Bauern. Und das hatte natürlich einen guten Grund, denn nur wirtschaftlich leistungsfähige Untertanen konnten ihren Zahlungsverpflichtungen nachkommen.

Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen, Grafschaft Tecklenburg, Akten, Nr. 96:

An Ihro Hochgräfliche Gnaden
Zu Bentheim-Tecklenburg
Steinfurt und Limburg

Unterthäniges Bitten
Herman Hasenkampffs
zu Wechte
T[ecklenburg] den 5. Julij 1673

Hochgebohrner Graff,
gnädiger Herr,
Euer Hochgräflich Gnaden gebe ich untengenandter Eigenhöriger
unterthänig zur Nachricht, daß dero Hasenkamps Stätte
zu Wechte von Wiesengewächs und anderer Installung gering,
und also das Vieh davon nicht kann unterhalten werden,
wo nicht von außen, alß nemlich vom Feld, das Futter gemehret
wird: Bitte derwegen auß zwingender Noth, daß mir
gnädig erlaubet werde, daß, so bald der Esch vom Roggen
befreiet, und der Rogge [!] abgeführet, mein Vieh auff den
Stoppeln weiden möge [Zusatz am Rand: und die Pferd in der Nähe habe, daß sie von Kriegsleuten nicht genommen werden]. Muß ich warten, biß der gantze
Esch von allem Korn frey, so kommen gleich die von
Brochterbeck, als Ölrich, Schlöß, Stalford, auch andere
mit ihrem Vieh, vnd wird darauff in wenig Tagen alles
aufgefreßen. Sollten Euer Hochgräflich Gnaden dieses gnädig
bewegen und dero eigenhorige Stätte zum Wachsthum
solche Weide überlassen, werde ich mich schuldigster maßen
befleißigen, daß den noch stehenden Feldfrüchten der geringste
Schade [Zusatz am Rand: von meinen Vieh] nicht zukomme, über daß sol solche gnädige
Zulaßung mit einem Geschenk nach Kräfften
ersetzet werden von
Euer Hochgräflich Gnaden

Unterthänig Eigenhörigem Knecht
Herman Hasenkampff