Rendezvous á-la-Carte: Was eine Tanzkarte aus dem Jahr 1897 verrät

09.09.2022 Niklas Regenbrecht

Foto der „Schlussball-Karte“ aus Lünen (Innenseite), Archiv für Alltagskultur für Westfalen, Altsignatur: V.K. 1235.

Anastasia Margariti-Börgel

Eine doppelseitige, 8 x 12 cm große, aus Pappe gefertigte Karte in rosa und beige-Tönen, die sich unter der Altsignatur VK 1235 in einem ungeordneten Bestand im Alltagskulturarchiv fand, steht am Anfang einer historischen Tiefenbohrung. 

Bei der Karte handelt es sich um eine Tanzkarte, die anlässlich des Schlussballs der Winckler´schen Tanzschule am 18. August 1897 im Hotel „Zum goldenen Löwen“ in Lünen an die teilnehmenden Damen ausgehändigt wurde. Die Besitzerin des vorliegenden Exemplars ist unbekannt, der für den Eintrag des Namens vorgesehene Raum leer. Die Karte stammt aus dem Nachlass der Konrektorin a.D. Ida Quitmann (1876-1966) aus Lünen und wurde dem Archiv von Ernst Langenbach übergeben. Die Lebensdaten von Ida Quitmann lassen es möglich erscheinen, dass es sich um ihre Tanzkarte gehandelt hat.

Foto der „Schlussball-Karte“ aus Lünen (Vorderseite), Archiv für Alltagskultur für Westfalen, Altsignatur: V.K. 1235.

Ein kurzer Blick in die Geschichte der Tanzkarte erleichtert den Zugang zu dem vorliegenden Artefakt: Erste Belege für Tanzkarten liegen bereits aus dem beginnenden 18. Jahrhundert vor. Ihre Popularität nimmt im Laufe des 19. Jahrhunderts rasant zu. Die Tanzkarten, die in der Größe etwa einer Spielkarte entsprechen, waren in der Regel als Klappkarten gefertigt. Auf der Vorderseite waren sie mit Ornamenten verziert und beschriftet. Im Innenteil beinhalteten sie das Programm des Tanzballs. Neben den für die Tanzveranstaltung vorgesehenen Tänzen mit dazu gehörigen Musikstücken und Komponisten gab es jeweils eine Zeile, die zur Eintragung eines Namens gedacht war. Meistens war eine Art Kordel oder Schnur an einer Ecke der Karte angebracht, sodass die Damen ihre Karte am Kleid oder am Armgelenk tragen konnten. Ihre Funktion liegt auf der Hand: die männlichen Anwesenden eines Balls konnten sich bei einer Dame für einen oder mehrere Tänze eintragen. Dazu gab es bestimmte Vorgaben, die beachtet werden mussten und die für die Etikette unverzichtbar waren. Das Eintragen in die Karte einer Dame erfolgte entweder im Vorfeld, indem die Bewerber sich den Eltern der Dame bei einem Besuch vorstellten und ihren Namen dann eintrugen, oder am Abend des Balles selbst. In der Regel stand also zu Beginn einer Tanzveranstaltung schon fest, welche Paare bei einem bestimmten Tanz auf die Tanzfläche traten. Spontanes Auffordern, das Nicht-Antreten eines Tanzes, für den man sich eingetragen hatte, oder eine Verspätung galten unter diesen Umständen natürlich als unverzeihliches Verhalten.

Foto der „Schlussball-Karte“ aus Lünen (Rückseite), Archiv für Alltagskultur für Westfalen, Altsignatur: V.K. 1235

All diese Vorgaben dienten natürlich nicht nur der ordnungsgemäßen Gestaltung des Abends, sondern ermöglichten primär die Kontrolle einer normgerechten Begegnung der Geschlechter.

Die Gestaltung der vorliegenden Karte rekurriert auf die höfische Kultur: die Vorderseite ist wie ein Bilderrahmen gestaltet. Ein Fächer in der Mitte sowie die Beschriftung („Schluss-Ball …“) verweisen auf den Anlass des Balls. Auch die Rückseite ist opulent gestaltetet: Hier findet sich das Bild eines flötespielenden Knaben im Rokokokostüm. Auffällig an dem vorliegenden Exemplar ist das Fehlen einer Vorrichtung für das Tragen der Karte während des Tanzes. Auch der Innenteil ist schlichter als vergleichbare Stücke. Er enthält das Programm des Balls und nur sehr dezente Verzierungen.

Die Vorderseite der Karte verrät den Anlass, aus dem der Ball veranstaltet wurde: Die Beendigung des (Tanz-)Kurses 1897. Als Veranstalter wird die Tanzschule von Rob[ert] Winckler benannt. Der Ball wird im Hotel „Zum goldenen Löwen“ zu Lünen veranstaltet, offen bleibt jedoch, ob es sich um eine öffentliche Veranstaltung handelte, an der auch Personen, die keine Kursteilnehmer waren, teilnehmen durften. Unklar ist auch, ob es sich bei der Winckler´schen Tanzschule um eine ortseigene Schule oder um eine „Wanderschule“ handelte.

Zu Robert Winckler lässt sich anhand von Adressbüchern lediglich sagen, dass er Tanzlehrer war und am Heiligerweg 8 in Dortmund wohnte. Einige Annoncen seiner Tanzschule aus dem Jahr 1897 sind in den Zeitungen für Dortmund und Umgebung zu finden. Winkler bot dort Tanzkurse für Schüler und Schülerinnen ebenso wie für Erwachsene im „Kölnische[n] Hof“, Kölnische Str. 7 in Dortmund an.

Weitere Informationen über die Schule von Robert Winckler sind leider nicht überliefert, so dass über die Teilnehmenden der Kurse oder ein Kursangebot andernorts (z.B. in Lünen) keine Aussage getroffen werden kann.

Annonce der Winckler´schen Tanzschule, Dortmunder Zeitung 108 (18.04.1897).

Rätselhaft ist auch der Ort der Abschlussballveranstaltung: Der Ball fand laut Tanzkarte im 1779 errichtetem Hotel „Zum goldenen Löwen“ (Inhaber Carl Köster) in Lünen statt. Laut Auskunft des Stadtarchivs in Lünen und des Bauplans des Gebäudes, welches an der Langen-Straße 3-5 stand, war das Gastzimmer mit 56qm der größte Raum des Hotels. Ob hier ein Ball veranstaltet werden konnte, scheint aber fraglich. Zeitgleich gab es noch einen weiteren Gasthof in Lünen, der über einen genügend großen Saal verfügt hätte – allerdings wäre dann die Ortsbezeichnung auf der Tanzkarte falsch. Ein Hotel „Zum goldenen Löwen“ befand sich zur selben Zeit auch an der Kampstr. 93 in Dortmund (Inhaber 1898 Friedr. Elling). Dort fanden auch Tanzkurse statt, allerdings von der „Tanzschule H. Streil, j. - akademischer Tanzlehrer, Mitglied der Akademie der Tanzlehrkunst zu Berlin“ und zwar für junge Damen und Kaufleute (Dortmunder Zeitung und Adressbücher der Stadt Dortmund aus dem Jahr 1897). War also die aufgedruckte Ortsangabe falsch oder handelte es sich um eine ungewöhnlich kleine Tanzveranstaltung? Die vorhandenen Quellen lassen eine abschließende Klärung an dieser Stelle leider nicht zu.

Welche weiteren Informationen lassen sich der Tanzkarte entnehmen? Wendet man sich den Eintragungen im Innenteil der Tanzkarte zu, so wird deutlich, dass nicht alle Tänze belegt waren und dass sich einige Tanzpartner für mehr als einen Tanz eingetragen hatten. Anstandsbüchern aus der Wende zum 20. Jahrhundert ist dazu zu entnehmen, dass ein zu häufiger Eintrag nicht nur unhöflich, sondern unerhört war, wenn dies nicht als Brautwerbung aufgefasst werden sollte und mit den Eltern der Dame bereits abgesprochen war.   

Das war im vorliegenden Fall anscheinend nicht so: Die Einträge von einzelnen Männern auf der Tanzkarte häuften sich nicht über Gebühr. Sie stammten von Lünener Kauf- und Gewerbetreibenden sowie einigen Personen, die nicht identifiziert werden konnten. Laut Angaben des Lüner Stadtarchivs deuten Namen wie E. Fluhme und M. & P. Lenz von der Lüner Eisengießerei, M. Greve (Bankier), H. Endemann (Kaufmann), sowie F. & H. Quitmann (Blechwarenfabrik) auf wohlsituierte Bürger(söhne) hin. Die vier weiteren Einträge:  A. Brünecken, H. Tappeken, Harlinghausen und Nienhausen sind im Lüner oder Dortmunder Adressbuch nicht zu finden.

Anhand der Eintragungen kann aber zumindest schlussgefolgert werden, dass es sich bei dem Ball um eine Tanzveranstaltung des gehobenen Lünener Bürgertums handelte.

Die Mehrheit der Herren hatte sich für zwei Tänze in die Tanzkarte eingetragen, wenige nur einmal. Vermutlich waren auch einige der Tänzer miteinander verwandt – zumindest legen dies die Nachnamen nahe. Vielleicht hat die Besitzerin der Karte auf dem Ball ja ihren zukünftigen Ehegatten getroffen: der Nachnahme der Nachlassgeberin, Ida Quitmann, taucht jedenfalls auch bei den Eintragungen der Tänzer auf. Als Beleg für ein späteres Verwandtschaftsverhältnis der genannten Personen ist das allerdings zu wenig.

Die Tanzkarte aus Lünen ist auch ein Beleg für die Tanzkultur im ausgehenden 19. Jahrhundert. Welche Tänze zu dieser Zeit getanzt wurden und was sie über die Zeit aussagen, erfahren Sie Ende des Monats in einer Fortsetzung dieses Beitrags …

 

Literatur:

Bernhard, Fritz (Hrsg.): Ballspenden. 120 Farbfotos von Elke Dröscher. Harenberg Kommunikation, Dortmund 1979.

Hans J. Wulff: Von Tanzkarten und Damenspenden: Rituale des Ball-Walzers. IRASM 51 (2020) 1: 43-48.

Quellen:

Mitteilungen des Stadtarchivs Lünen, August 2022

Adressbücher der Stadt Dortmund aus den Jahren 1896-1903 über das Portal des Vereins Computergenealogie e.V. (compgen.de) (letzter Aufruf am 25.08.2022)