Rätselhaft ist auch der Ort der Abschlussballveranstaltung: Der Ball fand laut Tanzkarte im 1779 errichtetem Hotel „Zum goldenen Löwen“ (Inhaber Carl Köster) in Lünen statt. Laut Auskunft des Stadtarchivs in Lünen und des Bauplans des Gebäudes, welches an der Langen-Straße 3-5 stand, war das Gastzimmer mit 56qm der größte Raum des Hotels. Ob hier ein Ball veranstaltet werden konnte, scheint aber fraglich. Zeitgleich gab es noch einen weiteren Gasthof in Lünen, der über einen genügend großen Saal verfügt hätte – allerdings wäre dann die Ortsbezeichnung auf der Tanzkarte falsch. Ein Hotel „Zum goldenen Löwen“ befand sich zur selben Zeit auch an der Kampstr. 93 in Dortmund (Inhaber 1898 Friedr. Elling). Dort fanden auch Tanzkurse statt, allerdings von der „Tanzschule H. Streil, j. - akademischer Tanzlehrer, Mitglied der Akademie der Tanzlehrkunst zu Berlin“ und zwar für junge Damen und Kaufleute (Dortmunder Zeitung und Adressbücher der Stadt Dortmund aus dem Jahr 1897). War also die aufgedruckte Ortsangabe falsch oder handelte es sich um eine ungewöhnlich kleine Tanzveranstaltung? Die vorhandenen Quellen lassen eine abschließende Klärung an dieser Stelle leider nicht zu.
Welche weiteren Informationen lassen sich der Tanzkarte entnehmen? Wendet man sich den Eintragungen im Innenteil der Tanzkarte zu, so wird deutlich, dass nicht alle Tänze belegt waren und dass sich einige Tanzpartner für mehr als einen Tanz eingetragen hatten. Anstandsbüchern aus der Wende zum 20. Jahrhundert ist dazu zu entnehmen, dass ein zu häufiger Eintrag nicht nur unhöflich, sondern unerhört war, wenn dies nicht als Brautwerbung aufgefasst werden sollte und mit den Eltern der Dame bereits abgesprochen war.
Das war im vorliegenden Fall anscheinend nicht so: Die Einträge von einzelnen Männern auf der Tanzkarte häuften sich nicht über Gebühr. Sie stammten von Lünener Kauf- und Gewerbetreibenden sowie einigen Personen, die nicht identifiziert werden konnten. Laut Angaben des Lüner Stadtarchivs deuten Namen wie E. Fluhme und M. & P. Lenz von der Lüner Eisengießerei, M. Greve (Bankier), H. Endemann (Kaufmann), sowie F. & H. Quitmann (Blechwarenfabrik) auf wohlsituierte Bürger(söhne) hin. Die vier weiteren Einträge: A. Brünecken, H. Tappeken, Harlinghausen und Nienhausen sind im Lüner oder Dortmunder Adressbuch nicht zu finden.
Anhand der Eintragungen kann aber zumindest schlussgefolgert werden, dass es sich bei dem Ball um eine Tanzveranstaltung des gehobenen Lünener Bürgertums handelte.
Die Mehrheit der Herren hatte sich für zwei Tänze in die Tanzkarte eingetragen, wenige nur einmal. Vermutlich waren auch einige der Tänzer miteinander verwandt – zumindest legen dies die Nachnamen nahe. Vielleicht hat die Besitzerin der Karte auf dem Ball ja ihren zukünftigen Ehegatten getroffen: der Nachnahme der Nachlassgeberin, Ida Quitmann, taucht jedenfalls auch bei den Eintragungen der Tänzer auf. Als Beleg für ein späteres Verwandtschaftsverhältnis der genannten Personen ist das allerdings zu wenig.
Die Tanzkarte aus Lünen ist auch ein Beleg für die Tanzkultur im ausgehenden 19. Jahrhundert. Welche Tänze zu dieser Zeit getanzt wurden und was sie über die Zeit aussagen, erfahren Sie Ende des Monats in einer Fortsetzung dieses Beitrags …
Literatur:
Bernhard, Fritz (Hrsg.): Ballspenden. 120 Farbfotos von Elke Dröscher. Harenberg Kommunikation, Dortmund 1979.
Hans J. Wulff: Von Tanzkarten und Damenspenden: Rituale des Ball-Walzers. IRASM 51 (2020) 1: 43-48.
Quellen:
Mitteilungen des Stadtarchivs Lünen, August 2022
Adressbücher der Stadt Dortmund aus den Jahren 1896-1903 über das Portal des Vereins Computergenealogie e.V. (compgen.de) (letzter Aufruf am 25.08.2022)