Sebastian Schröder
Im Mittelpunkt des Rittergutes Stockhausen unweit der Stadt Lübbecke steht ein rundlicher Turm. Umgeben vom Wirtschaftstrakt, dem steinernen Herrenhaus und einer wasserführenden Gräfte beherbergte er einst die Tauben der Familie von der Recke, die in der Frühen Neuzeit zum Eigentum des Adelssitzes zählten. Aufgrund seiner Form und Bauweise sprachen die Zeitgenossen von einem „Taubenturm“. Gelten die gefiederten Botschafter heutzutage vielfach als „Ratten der Lüfte“ – übrigens völlig zu Unrecht, schließlich bestechen sie durch die faszinierende und noch immer nicht gänzlich aufgeklärte Fähigkeit, selbst über hunderte Kilometer hinweg ihre heimatlichen Gefilde wiederzufinden –, so war das Halten von Tauben damals ein Monopol. Nur der Adel besaß das Recht, diese Vögel zu züchten und zu halten. Das Fleisch der Tiere empfand man als äußerst schmackhafte Delikatesse. Zudem nutzten die Adligen ihre Tauben, um Botschaften oder Briefe zu übermitteln. Darüber hinaus war der stark phosphorhaltige Kot der Vögel als Dung äußerst gefragt. Das Halten der Tauben in einem Turm erleichterte das Sammeln der Hinterlassenschaften; denn was nützt es, wenn die fliegenden Tiere lediglich auf dem Dach des Nachbarn ihre Notdurft verrichten?
Den Bauern und Bürgern der umliegenden Ortschaften waren die Tauben allerdings teilweise ein Dorn im Auge. Scharenweise, ja gar zu tausenden würde der Vogelschwarm des Rittergutes Stockhausen ihre Gärten und die städtische Feldflur heimsuchen, monierten etwa die Lübbecker Bürger in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die Tiere verzehrten Sämlinge sowie Früchte und würden großen Schaden anrichten. Als Beweis erlegten die Lübbecker im Jahr 1739 eine Taube, sezierten diese und fanden im Kropf nicht weniger als 72 Bohnen! Baron von der Recke war außer sich vor Wut, als er vom Gebaren der Bürgerschaft hörte. Als Adliger dürfe er so viele Tauben sein Eigen nennen, wie er wolle. Das Schießen seiner Vögel sei ein widerrechtlicher Angriff gegen seine Privilegien, klagte von der Recke. Und überhaupt halte er lediglich 200 Tiere, die Stadtbevölkerung übertreibe also maßlos.
War die Taubenzucht ein adliges Vorrecht, so war der Taubenturm das steinerne Symbol dieses Standesprivilegs; der Turm demonstrierte die Macht und den adligen Anspruch des Barons von der Recke. Denn Taubentürme besaßen über ihren eigentlichen Nutzen hinaus eine weitere Funktion, die im Lübbecker Land und der näheren Umgebung mehrfach belegt ist: Sie dienten als Gefängnis. In der unteren Etage sperrte der Gutsherr widerspenstige Untergebene oder Eigenbehörige ein. Das sei – so waren sich die Adligen der Region einig – gängige und rechtmäßige Praxis. Dem Besitzer eines Adelssitzes sei es gestattet, seine Dienstleute zu strafen und ihnen notfalls auch mehrere Tage ihre Freiheit zu entziehen. Folter, massive Gewalt oder gar die Ausübung der Todesstrafe waren dagegen kein Bestandteil der adligen Gerichtshoheit und Herrschaft.