Tod im Taubenturm

26.02.2021 Dorothee Jahnke

Taubenturm des Rittergutes Stockhausen. Foto: Sebastian Schröder.

Sebastian Schröder

 

Im Mittelpunkt des Rittergutes Stockhausen unweit der Stadt Lübbecke steht ein rundlicher Turm. Umgeben vom Wirtschaftstrakt, dem steinernen Herrenhaus und einer wasserführenden Gräfte beherbergte er einst die Tauben der Familie von der Recke, die in der Frühen Neuzeit zum Eigentum des Adelssitzes zählten. Aufgrund seiner Form und Bauweise sprachen die Zeitgenossen von einem „Taubenturm“. Gelten die gefiederten Botschafter heutzutage vielfach als „Ratten der Lüfte“ – übrigens völlig zu Unrecht, schließlich bestechen sie durch die faszinierende und noch immer nicht gänzlich aufgeklärte Fähigkeit, selbst über hunderte Kilometer hinweg ihre heimatlichen Gefilde wiederzufinden –, so war das Halten von Tauben damals ein Monopol. Nur der Adel besaß das Recht, diese Vögel zu züchten und zu halten. Das Fleisch der Tiere empfand man als äußerst schmackhafte Delikatesse. Zudem nutzten die Adligen ihre Tauben, um Botschaften oder Briefe zu übermitteln. Darüber hinaus war der stark phosphorhaltige Kot der Vögel als Dung äußerst gefragt. Das Halten der Tauben in einem Turm erleichterte das Sammeln der Hinterlassenschaften; denn was nützt es, wenn die fliegenden Tiere lediglich auf dem Dach des Nachbarn ihre Notdurft verrichten?

Den Bauern und Bürgern der umliegenden Ortschaften waren die Tauben allerdings teilweise ein Dorn im Auge. Scharenweise, ja gar zu tausenden würde der Vogelschwarm des Rittergutes Stockhausen ihre Gärten und die städtische Feldflur heimsuchen, monierten etwa die Lübbecker Bürger in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die Tiere verzehrten Sämlinge sowie Früchte und würden großen Schaden anrichten. Als Beweis erlegten die Lübbecker im Jahr 1739 eine Taube, sezierten diese und fanden im Kropf nicht weniger als 72 Bohnen! Baron von der Recke war außer sich vor Wut, als er vom Gebaren der Bürgerschaft hörte. Als Adliger dürfe er so viele Tauben sein Eigen nennen, wie er wolle. Das Schießen seiner Vögel sei ein widerrechtlicher Angriff gegen seine Privilegien, klagte von der Recke. Und überhaupt halte er lediglich 200 Tiere, die Stadtbevölkerung übertreibe also maßlos.

War die Taubenzucht ein adliges Vorrecht, so war der Taubenturm das steinerne Symbol dieses Standesprivilegs; der Turm demonstrierte die Macht und den adligen Anspruch des Barons von der Recke. Denn Taubentürme besaßen über ihren eigentlichen Nutzen hinaus eine weitere Funktion, die im Lübbecker Land und der näheren Umgebung mehrfach belegt ist: Sie dienten als Gefängnis. In der unteren Etage sperrte der Gutsherr widerspenstige Untergebene oder Eigenbehörige ein. Das sei – so waren sich die Adligen der Region einig – gängige und rechtmäßige Praxis. Dem Besitzer eines Adelssitzes sei es gestattet, seine Dienstleute zu strafen und ihnen notfalls auch mehrere Tage ihre Freiheit zu entziehen. Folter, massive Gewalt oder gar die Ausübung der Todesstrafe waren dagegen kein Bestandteil der adligen Gerichtshoheit und Herrschaft.

Taubenturm des Rittergutes Stockhausen. Foto: Sebastian Schröder.

Die Haftbedingungen lassen sich am Fall der Marie Haler oder Schröder verdeutlichen. Diese diente 1698 als Hühnerwärterin auf dem Gut Stockhausen. Am 1. Oktober des Jahres, wie sich Baron Wilhelm von der Recke erinnerte, habe seine Tochter die Dienerin auf frischer Tat bei einem Diebstahl ertappt. Haler hatte versucht, Flachs in einem Betttuch zu stehlen. Nachforschungen ergaben, dass sie weiteres Diebesgut im Hühnerstall versteckt hatte. Nach alter Gewohnheit habe der Baron die Missetat bestraft und seine Hühnerwärterin im Taubenturm eingeschlossen. Damit sie sich dort nicht selbst umbringe, seien der geständigen Frau alle hierzu nutzbare Gegenstände abgenommen worden. Zudem habe der Baron die an der Tür zum Taubenturm befindliche Klappe zunageln lassen, damit die Inhaftierte keinen Kontakt zum Gesinde aufnehmen konnte. Am 3. Oktober erschien der Untervogt Dreckmeyer auf dem Gut, um das Delikt im landesherrlichen Auftrag zu untersuchen. Er ordnete an, dass Haler ins Amtsgefängnis gebracht werden sollte. Kurze Zeit nachdem er der Delinquentin diese Entscheidung bekanntgab, hörte der Untervogt im Innern des Turms kein Lebenszeichen mehr. Da sich die Tür in der Eile nicht öffnen ließ, zerschlug einer der adligen Diener dieselbe. Hinter dem Eingang bot sich ein grauenvoller Anblick: Die Dienerin hatte sich aus Angst vor ihrer Überführung ins Amtsgefängnis mit einem Kleidungsstück stranguliert.

Ein Jahr später klagte der Mindener Fiskal, ein mit einem heutigen Staatsanwalt vergleichbarer landesherrlicher Beamter, den Baron an. Der Umgang mit der Frau im Taubenturm sei grausam gewesen. Der Zugang zu ihrem Verschlag sei verrammelt gewesen, sodass niemand der Inhaftierten habe Essen oder Trinken reichen können. Trotz flehentlicher Bitten der Hühnerwärterin habe sie vier Tage lang im Turm ausharren müssen, ehe sie sich aus Verzweiflung selbst umgebracht habe. Der Gutsbesitzer sei verantwortlich für den Selbstmord und habe seine herrschaftlichen Befugnisse massiv überschritten.

Letztlich folgte die Regierung, die landesherrliche Verwaltungsbehörde für das Fürstentum Minden, nach jahrelangem Prozess der Argumentation des Fiskals nicht. Von der Recke kam unbehelligt davon. Dennoch belegt dieser Prozess, dass Taubentürme Symbole und Zeichen adliger Herrschaft waren und keinesfalls nur der Tierhaltung beziehungsweise der Düngerproduktion dienten. Der Todesfall der Marie Haler löste einen Streit um die Ausübung der Strafgewalt zwischen dem Adel und dem Landesherrn aus. Insofern zeugt der Konflikt vom Nebeneinander vormoderner Rechtsinstanzen sowie den Aushandlungsprozessen und divergierenden Interessen zwischen lokalem Adel und der sich etablierenden Territorialverwaltung.

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Schlagworte: Sebastian Schröder · Tiere