Todesursache: „Erschöpfung“. Digitale Ausstellung zum Hungersterben in der Heilanstalt Warstein 1914–1919

12.03.2024 Marcel Brüntrup

Startseite der Online-Ausstellung „Todesursache: Erschöpfung“. Das seltene Alltagsfoto zeigt Patienten bei der Nahrungsaufnahme in den 1920er Jahren. Foto: LWL/Emil Schoppmann

Emil Schoppmann

Schon wenige Monate nach Kriegsausbruch wurden im gesamten Deutschen Reich die Nahrungsmittel knapp. Alle Reserven wurden für den Krieg mobilisiert. Spätestens während des sogenannten Steckrübenwinters mussten seit Ende 1916 große Teile der Bevölkerung hungern. Besonders hart waren die Patientinnen und Patienten der Heil- und Pflegeanstalten von den Auswirkungen des Krieges betroffen. Im Unterschied zur Zivilbevölkerung konnten die Insassen „totaler Institutionen“, also von Psychiatrien, Gefängnissen oder Armenhäusern, nicht für sich selbst sorgen. Neben der unzureichenden Versorgung mussten viele der männlichen Pfleger und Angestellten an die Front. Nahrungsmittel, Medizin oder Verbandsmaterial wurden zur Mangelware. Eine medizinische Versorgung war bald nur noch eingeschränkt möglich. In den deutschen psychiatrischen Einrichtungen kam es zu einem Massensterben, dem zwischen 1914 und 1919 mehr als 70.000 Patientinnen und Patienten zum Opfer fielen. Allein in den sechs westfälischen Heilanstalten kamen schätzungsweise 2.400 Menschen durch die kriegsbedingten Versorgungsmängel und die mangelhafte Pflege ums Leben.

Der klinikeigene Gutshof konnte durch die Selbstversorgung in Kriegszeiten die Folgen der Nahrungsknappheit ein wenig abmildern. Foto: LWL/Psychiatriemuseum Warstein

Eine digitale Ausstellung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe: „Todesursache: Erschöpfung. Hungersterben in der Heilanstalt Warstein 1914-1919“ beschäftigt sich nun mit diesem Kapitel der Psychiatriegeschichte. Am Beispiel der damaligen Heilanstalt in Warstein gibt sie Einblicke in den von Mangel und Entbehrung geprägten Alltag einer psychiatrischen Anstalt im Ersten Weltkrieg. Der Titel spielt auf die Eintragungen des Anstaltspfarrers Franz Stille an, der im Sterbebuch der Klinik die vermehrt auftretende körperliche Erschöpfung als Todesursache angab.

Die auf der Internetseite des Psychiatriemuseums Warstein veröffentlichte Ausstellung wurde von Emil Schoppmann im Rahmen seiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Referent im Projekt „Dinge ver-rücken. Vermittlungs- und Kommunikationsstruktur zu Geschichte und Gegenwart der Psychiatrie in Westfalen“ am Psychiatriemuseum Warstein kuratiert. Das Projekt „Dinge ver-rücken“ wird von der LWL-Kulturstiftung gefördert und mit Unterstützung der Stadt Warstein, dem LWL-Klinikverbund Lippstadt-Warstein und dem LWL-Museumsamt durchgeführt. Dabei sollen Strategien für die Vermittlung der westfälischen Psychiatriegeschichte erarbeitet werden.

Reizstromgeräte für die Elektrotherapie wurden im Ersten Weltkrieg besonders zur Behandlung von „Kriegszitterern“ eingesetzt. Sammlung Psychiatriemuseum Warstein: PMW_2021_41. Foto: LWL/Emil Schoppmann

Das digitale Format ergänzt die im Haus 26 der LWL-Klinik Warstein gezeigte Dauerausstellung des Psychiatriemuseums. Der digitale, zeit- wie ortsunabhängige Zugang schafft ein zusätzliches barrierefreies Vermittlungsangebot. Fotos von Objekten aus dem Psychiatriemuseum und von Dokumenten aus dem LWL-Archivamt geben bildliche Einblicke. Beispielhaft werden vier Patient:innen vorgestellt, welche die Folgen der unzureichenden Ernährung nicht überlebten. Einer von ihnen war der aus Italien stammende, nach Deutschland gekommene Steinbrucharbeiter Enrico R., der 1916 wegen nervöser Stimmungsschwankungen in die Heilanstalt Warstein eingewiesen wurde. Der Vater dreier Kinder starb ein Jahr später an Unterernährung und sollte seine in Friscano lebende Familie nicht mehr wiedersehen. Er und die drei anderen Portraitierten stehen stellvertretend für die Verstorbenen, deren Namen heute weitgehend in Vergessenheit geraten sind. Wie man mit den Opfern des Hungersterbens und des Krieges umging und welche Formen des Gedenkens sich etablierten, ist ebenfalls Teil der Ausstellung.

Todesursache: „Erschöpfung“. Hungersterben in der Heilanstalt Warstein 1914-1919

Link:

https://www.psychiatriemuseum-warstein.de/de/ausstellung/online-ausstellung/

Literatur:

Thomas Becker, Heiner Fangerau, Peter Fassl, Hans-Georg Hofer (Hg.): Psychiatrie im Ersten Weltkrieg, Studien zur Wirtschafts-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte, Bd. 12, München 2021.

Heinz Faulstich: Hungersterben in der Psychiatrie 1914-1949. Mit einer Topographie der NS-Psychiatrie, Freiburg im Breisgau 1998.

Bernd Walter: Psychiatrie und Gesellschaft in der Moderne. Geisteskrankenfürsorge in der Provinz Westfalen zwischen Kaiserreich und NS-Regime. Forschungen zur Regionalgeschichte Bd. 16, Paderborn 1996.

Franz-Werner Kersting: Anstaltsärzte zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik. Das Beispiel Westfalen, Paderborn 1996.