Schwerpunkt Fotografie: Tote Soldaten, erhängte Spione und zerstörte Städte

15.03.2024 Kathrin Schulte

Ein Foto von Wilhelm II. sowie der geprägte Schriftzug "Kriegs-Karten" und eine Krone befinden sich auf dem Einband des Fotoalbums. Gebunden ist es mit einem Bändchen in Farben der Flagge des Kaiserreichs (Foto: LWL).

Fotoalben aus dem Ersten Weltkrieg im Archiv für Alltagskultur, Teil 2

Kathrin Schulte

Nachdem in diesem Blog bereits ein Weltkriegsalbum aus dem Archiv für Alltagskultur vorgestellt wurde, geht es in diesem Beitrag um ein weiteres Album aus dem Ersten Weltkrieg – allerdings eines mit sehr viel drastischeren Fotografien. Anhand des Albums soll der Frage nachgegangen werden, wie im privaten Bereich mit Darstellungen von Kriegstoten umgegangen wurde.

Feldpost unterlag auch im Ersten Weltkrieg einer Text- und Bildzensur – diese bezog sich vor allem auf die Darstellung des Kriegsschauplatzes: man wollte vermeiden, dass kriegswichtige Informationen preisgegeben wurden. Die Zensur war im Ersten Weltkrieg aber keineswegs systematisch und wurde auch nicht streng durchgesetzt. Erst im Januar 1917 wurden im Kaiserreich „Leitsätze für die Bildzensur“ veröffentlicht:

Die Veröffentlichung von Bildern, die den „ganzen Ernst des Krieges (Kampfszenen, Tote, Schwerverwundete)“ zeigten, wurde darin nicht eingeschränkt. Lediglich übertriebene Darstellungen der Schrecken des Krieges oder Motive, die propagandistisch vom Feind genutzt werden konnten, sollten zensiert werden.

Da die Inszenierung des Todes offiziell nicht geächtet wurde, verwundert es nicht, dass Fotografien von Toten einen elementaren Bestandteil der Fotomotive und der Kriegsberichterstattung bildeten. Allerdings waren die Toten des Ersten Weltkriegs in der Regel die gegnerischen Toten, die am Ort des Kampfes auf dem Boden liegend gezeigt wurden; oftmals verwundet oder schon im Zustand der Verwesung, nur selten abgedeckt oder bestattet. Die Körper der Toten wurden durch diese Form der Darstellung zur Trophäe, zum Zeichen des Sieges über den Gegner und zu einem Teil des Schlachtfeldes. Die eigenen Toten hingegen wurden aufgebahrt oder im Kontext eines Rituals des Gedenkens gezeigt, auch um den Familien in der Heimat zu suggerieren, dass ihre Angehörigen an der Front angemessen bestattet wurden.

Ein Motiv, das sich kaum in den veröffentlichten Fotografien wiederfindet, war die Zivilbevölkerung in den Gebieten an und hinter der Front. Hier widerspricht das in der Erinnerungskultur erhaltene Bild des Ersten Weltkriegs der Realität. Den Grund dafür sieht der Historiker Anton Holzer in einer „zweiten Zensur“ nach Ende des Krieges: Vor allem an der Ostfront verübten Soldaten der deutschen und der österreichisch-ungarischen Truppen massive Verbrechen an der Zivilbevölkerung, darunter Deportationen, Plünderungen, das Niederbrennen ganzer Ortschaften sowie Massenerschießungen und öffentliche Hinrichtungen vermeintlicher Spione. Diese Verbrechen wurden zwar durchaus fotografisch festgehalten, sollten aber nicht Teil des öffentlich überlieferten Bildspektrums werden und „verschwanden“ in privaten Sammlungen und Alben.  

Der Erste Weltkrieg war das zentrale Objekt der Erinnerungskultur der 1920er und 1930er Jahre und schuf auch für die Fotografien des Zweiten Weltkriegs Bildtraditionen – die Erinnerungskultur wurde aber vor allem durch konservative und revisionistische Kreise gestaltet. Anhand der Fotoauswahl wurde die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg umgedeutet und bezog sich nun vor allem auf den Frontschauplatz: Soldaten wurden als Heldenfiguren inszeniert und der Krieg – auch medial – vor allem als Materialschlacht an der Westfront erinnert. Der Krieg in Ost- und Südosteuropa sowie die Verbrechen an der Zivilbevölkerung gerieten auch visuell lange in Vergessenheit. Diese Narrative wurden im Rahmen der „Fischer-Kontroverse“, die unter anderem die deutsche Kriegsschuld am Ersten Weltkrieg thematisierte, erst ab den 1960er Jahren in Frage gestellt, viele Motive haben sich aber bis in das frühe 21. Jahrhundert gehalten.

Auf der Innenseite des Albums steht eine Widmung: „Meiner lieben Emilie zu ihrem 21.ten Geburtstage, am 18.ten Juli 1915 gewidmet von Ihrer treuen Hedwig.“ (Foto: LWL).

Ein Geschenk von Hedwig an Emilie

Dass auch Frauen in dieser speziellen Erinnerungskultur eine Rolle spielen konnten, belegt ein Einsteckalbum mit der Aufschrift „Kriegs-Karten“ und einem Portrait Kaiser Wilhelms II. auf dem Einband. Es ist verhältnismäßig klein, auf jeder der 50 Seiten ist nur Platz für jeweils ein Foto im Format 9 X 14 cm; insgesamt befinden sich 68 Fotopostkarten und fünf nachträglich hinzugefügte Fotografien darin. Das kleine Album ist Teil des Personenbestands der Familie Zwarg und hat die Signatur K03139.0045 im Archiv für Alltagskultur. Hier ist es vor allem die handschriftliche Widmung in der Innenseite des Einbands, die Fragen aufwirft: „Meiner lieben Emilie zu ihrem 21.ten Geburtstage, am 18.ten Juli 1915 gewidmet von Ihrer treuen Hedwig.“ Bei Emilie handelt es sich um die Großmutter der Bestandsgeberin; sie wurde 1894 in Bochum geboren, war Tochter eines Kolonialwarenhändlers und besuchte seit 1911 eine Hauswirtschaftsschule im Mädchenpensionat Moselweiß in Koblenz. Wer Hedwig war und in welchem Verhältnis sie zu Emilie stand, lässt sich anhand der vorliegenden Unterlagen nicht sagen, vielleicht war sie eine Freundin von Emilie.

Die im Album enthaltenen Fotos entsprechen auf den ersten Blick den „typischen“ Motiven des Ersten Weltkriegs: Viele der Fotografien zeigen zerstörte Städte in Frankreich, laut Beschriftung ist auf den Fotos das Gebiet zwischen der Champagne und Cambre zu sehen. Darüber hinaus ist auch Kriegsgerät („Mörser Gestell“) abgebildet; Blindgänger, die vor einem Baum aufgestellt und mit „Amerik. Liebesgaben“ beschriftet wurden oder sorgsam drapierte Waffen, Granaten und Munition.

Auch befinden sich Fotografien gegnerischer Soldaten in dem Album, beschriftet mit „gefangene Russen“, „Senegalesen“ und „gefangene Franzosen“. Im Vergleich zu anderen Alben sind hier darüber hinaus die Fotos toter gegnerischer Soldaten sehr viel präsenter. Sie spiegeln die Erkenntnisse der Forschung hinsichtlich der Darstellung Toter im Ersten Weltkrieg wider: Meist werden tote französische Soldaten gezeigt. „Schützengraben (tote Franzosen)“ heißt es dazu auf der Vorderseite einer Fotografie. Zu sehen sind tote Gegner, die in unterschiedlichen Verwesungszuständen auf den Schlachtfeldern zurückgelassen wurden, außerdem ein abgeschossenes britisches Flugzeug samt totem Pilot. Auch erschossene Pferde sind auf einem der Fotos zu erkennen. Das einzige Foto eines toten deutschen Soldaten entspricht den Darstellungskonventionen: Gezeigt wird seine Beerdigung durch Sanitätspersonal auf einem Soldatenfriedhof. 

Der erhängte Spion

Mit einem der Fotos gelingt noch einmal eine Steigerung der martialischen Wirkung der übrigen Fotografien.  Es ist mit „Russ. Spion“ beschriftet und zeigt einen erhängten Mann an einem Galgen, um ihn herum stehen Soldaten. Über den Hintergrund des Fotos lässt sich nichts herausfinden, bis auf den Hinweis auf den russischen Spion ist das als Bildpostkarte gefertigte Foto unbeschriftet. Die um den Galgen stehenden Soldaten tragen Uniformen, die sie als Angehörige der österreichisch-ungarischen Truppen identifizieren, die Mützen unterscheiden sich von denen deutscher Soldaten und die Uniformjacken haben zwei Knopfreihen – damit ist es das einzige Foto in dem Album, das keinen Bezug zur deutschen Armee in Frankreich hat. Das Sujet des Fotos entspricht denjenigen, die der Historiker Anton Holzer im Zusammenhang mit dem Krieg gegen die Zivilbevölkerung in Ost- und Südosteuropa thematisiert – er analysiert Fotografien aus den Einsätzen der Truppen Österreich-Ungarns (umgangssprachlich auch als k. u. k.-Monarchie bezeichnet) und kommt zu dem Ergebnis, dass sich fotografische Belege für Hinrichtungen und Verbrechen an der Zivilbevölkerung vor allem in privaten Sammlungen finden. In öffentlichen Bildarchiven wurden sie kaum überliefert und fanden so auch keinen Eingang in die Erinnerungskultur nach dem Ende des Ersten Weltkriegs.

In den durch die österreichisch-ungarische Armee eroberten Gebieten galten Notverordnungen, die dortige Zivilbevölkerung unterstand einer Militärgerichtsbarkeit und war der k. u. k. Armee somit ausgeliefert: Um jedwede Unterstützung des Feindes zu verhindern, waren auch Exekutionen erlaubt – Schätzungen des Historikers Hans Hautmann zufolge ermordeten österreichisch-ungarische Truppen bereits zu Kriegsbeginn über 30.000 Menschen aus der Ukraine und Serbien unter dem Vorwand des Spionageverdachts. Die Militärgerichte waren von der hohen Anzahl an wegen Spionage verhafteter Personen so überfordert, dass die meisten Hinrichtungen ohne einen vorherigen „Gerichtsprozess“ stattfanden und oftmals nur auf einen Verdacht hin angeordnet wurden. Auch handelte es sich bei den hingerichteten Personen in den meisten Fällen nicht um Spione. Die Maßnahmen sind als Terror gegen die Zivilbevölkerung einzuordnen.

Bei den Hinrichtungen gab es für die Anwesenden kein Fotografieverbot. So ist es nicht ungewöhnlich, dass aus der Perspektive der beteiligten Soldaten fotografiert wurde. Dies ist auch bei dem Foto aus Emilies Album der Fall: Der vermeintliche Spion trägt ärmliche Kleidung, eine Kopfbedeckung, seine Hände und Füße sind gefesselt. Um ihn herum stehen Soldaten, die in Richtung Kamera oder des Toten schauen, einer berührt den Toten mit ausgestrecktem Arm. Das Foto wurde draußen aufgenommen, im Gegensatz zu anderen Fotos ermordeter „Spione“ allerdings ohne eine größere Anzahl ziviler Schaulustiger. Der Tote ist gleichermaßen Trophäe der Soldaten und die Hinrichtung eine Warnung an die Zivilbevölkerung – jede:r kann jederzeit des Verrats bezichtigt und hingerichtet werden. Zwar handelt es sich hier vermutlich um Fotos der Armee Österreich-Ungarns, entsprechende Verbrechen und Morde an der Zivilbevölkerung wurden jedoch auch deutschen Truppen nachgewiesen und fanden ebenso an der Westfront statt. Wieso sich dieses Foto mit k. u. k. Soldaten in einem Album befindet, das sonst nur deutsche Soldaten in Frankreich zeigt, ist unklar.

Ebenfalls unklar ist, woher die Fotos in dem Album stammen. Dass Hedwig sie selbst gemacht hat, ist eher unwahrscheinlich. Bei allen Fotografien handelt es sich um als Bildpostkarten gefertigte Fotografien. Auf zwei der Karten befindet sich sogar ein „Bestellzettel“, auf dem Stückzahlen und Nachnamen in unterschiedlichen Handschriften darauf verweisen, dass das betreffende Motiv von weiteren Personen gewünscht war. Das war nicht ungewöhnlich: Private und professionelle Fotografen boten meist weiteren Personen an, für sie Abzüge ihrer Fotografien zum Selbstkostenpreis oder gegen ein Honorar zu bestellen.  

Format und Material der ersten 68 Fotografien in dem Album verweisen auf eine gemeinsame Herkunft. Auch eint sie die Tatsache, dass sich keine Nachrichten auf der Rückseite befinden und sie bis 1915 gemacht wurden. Im hinteren Teil des Albums befinden sich weitere als Postkarte gefertigte Fotografien, allerdings teils in anderem Format, als Feldpostkarten beschriftet und in den Jahren 1916 und 1917 an Emilie oder einen „Herrn Zwarg“ adressiert. Vermutlich hat Emilie das ihr geschenkte Album weitergeführt und mit eigenen Fotografien und Ansichtskarten ergänzt.  

Entmenschlichende und gewaltverherrlichende Darstellungen waren nicht nur in den Alben des Ersten Weltkriegs zu finden, auch Angehörige der Wehrmacht, der SS und der Ordnungspolizei schickten Fotos von Massenerschießungen, von niedergebrannten Dörfern und anderen Verbrechen an ihre Familien und/oder kuratierten sie sorgfältig in Alben. Auch gegenwärtig wird der Umgang mit Fotografien aus Kriegsgebieten, gerade in den sozialen Medien, diskutiert, so beispielsweise im Kontext des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Vor allem angesichts von Fotografien von Kriegsverbrechen bleiben die Fragen aktuell: Wer setzt welche Fotografien für welche Zwecke ein? Wer sammelt und bewahrt sie? Wie sieht ein ethisch und wissenschaftlich angemessener Umgang mit solchen Fotografien aus? 

 

Literatur:

Holzer, Anton (Hg): Mit der Kamera bewaffnet. Krieg und Fotografie. Marburg 2003.

Holzer, Anton: Die andere Front. Darmstadt 2007.

Köster, Markus, Fotografien von Front und Heimatfront. Der Erste Weltkrieg in Bildsammlungen aus Westfalen 63, 2013, S. 241–294.

Flemming, Thomas: Zwischen Propaganda und Dokumentation des Schreckens. Feldpostkarten im Ersten Weltkrieg. In: Karmasin, Matthias: Krieg, Medien, Kultur. Neue Forschungsansätze. Paderborn 2007, S. 67 – 88.

Hüppauf, Bernd: Kriegsfotografie und die Erfahrung des Ersten Weltkriegs. In: Naumann, Barbara: Vom Doppelleben der Bilder. Bildmedien und ihre Texte. München 1993, S. 29 – 50.