Bei den Hinrichtungen gab es für die Anwesenden kein Fotografieverbot. So ist es nicht ungewöhnlich, dass aus der Perspektive der beteiligten Soldaten fotografiert wurde. Dies ist auch bei dem Foto aus Emilies Album der Fall: Der vermeintliche Spion trägt ärmliche Kleidung, eine Kopfbedeckung, seine Hände und Füße sind gefesselt. Um ihn herum stehen Soldaten, die in Richtung Kamera oder des Toten schauen, einer berührt den Toten mit ausgestrecktem Arm. Das Foto wurde draußen aufgenommen, im Gegensatz zu anderen Fotos ermordeter „Spione“ allerdings ohne eine größere Anzahl ziviler Schaulustiger. Der Tote ist gleichermaßen Trophäe der Soldaten und die Hinrichtung eine Warnung an die Zivilbevölkerung – jede:r kann jederzeit des Verrats bezichtigt und hingerichtet werden. Zwar handelt es sich hier vermutlich um Fotos der Armee Österreich-Ungarns, entsprechende Verbrechen und Morde an der Zivilbevölkerung wurden jedoch auch deutschen Truppen nachgewiesen und fanden ebenso an der Westfront statt. Wieso sich dieses Foto mit k. u. k. Soldaten in einem Album befindet, das sonst nur deutsche Soldaten in Frankreich zeigt, ist unklar.
Ebenfalls unklar ist, woher die Fotos in dem Album stammen. Dass Hedwig sie selbst gemacht hat, ist eher unwahrscheinlich. Bei allen Fotografien handelt es sich um als Bildpostkarten gefertigte Fotografien. Auf zwei der Karten befindet sich sogar ein „Bestellzettel“, auf dem Stückzahlen und Nachnamen in unterschiedlichen Handschriften darauf verweisen, dass das betreffende Motiv von weiteren Personen gewünscht war. Das war nicht ungewöhnlich: Private und professionelle Fotografen boten meist weiteren Personen an, für sie Abzüge ihrer Fotografien zum Selbstkostenpreis oder gegen ein Honorar zu bestellen.
Format und Material der ersten 68 Fotografien in dem Album verweisen auf eine gemeinsame Herkunft. Auch eint sie die Tatsache, dass sich keine Nachrichten auf der Rückseite befinden und sie bis 1915 gemacht wurden. Im hinteren Teil des Albums befinden sich weitere als Postkarte gefertigte Fotografien, allerdings teils in anderem Format, als Feldpostkarten beschriftet und in den Jahren 1916 und 1917 an Emilie oder einen „Herrn Zwarg“ adressiert. Vermutlich hat Emilie das ihr geschenkte Album weitergeführt und mit eigenen Fotografien und Ansichtskarten ergänzt.
Entmenschlichende und gewaltverherrlichende Darstellungen waren nicht nur in den Alben des Ersten Weltkriegs zu finden, auch Angehörige der Wehrmacht, der SS und der Ordnungspolizei schickten Fotos von Massenerschießungen, von niedergebrannten Dörfern und anderen Verbrechen an ihre Familien und/oder kuratierten sie sorgfältig in Alben. Auch gegenwärtig wird der Umgang mit Fotografien aus Kriegsgebieten, gerade in den sozialen Medien, diskutiert, so beispielsweise im Kontext des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Vor allem angesichts von Fotografien von Kriegsverbrechen bleiben die Fragen aktuell: Wer setzt welche Fotografien für welche Zwecke ein? Wer sammelt und bewahrt sie? Wie sieht ein ethisch und wissenschaftlich angemessener Umgang mit solchen Fotografien aus?
Literatur:
Holzer, Anton (Hg): Mit der Kamera bewaffnet. Krieg und Fotografie. Marburg 2003.
Holzer, Anton: Die andere Front. Darmstadt 2007.
Köster, Markus, Fotografien von Front und Heimatfront. Der Erste Weltkrieg in Bildsammlungen aus Westfalen 63, 2013, S. 241–294.
Flemming, Thomas: Zwischen Propaganda und Dokumentation des Schreckens. Feldpostkarten im Ersten Weltkrieg. In: Karmasin, Matthias: Krieg, Medien, Kultur. Neue Forschungsansätze. Paderborn 2007, S. 67 – 88.
Hüppauf, Bernd: Kriegsfotografie und die Erfahrung des Ersten Weltkriegs. In: Naumann, Barbara: Vom Doppelleben der Bilder. Bildmedien und ihre Texte. München 1993, S. 29 – 50.