Tragischer Unfall bei wilder Fahrt - Der Todesfall Kasting aus Spenge-Lenzinghausen (1703/04)

01.07.2022 Peter Herschlein

Auf diesem Foto aus den 1920er-Jahren sind zwei Pferdefuhrwerke zu sehen. Das Bild entstand in Preußisch Oldendorf-(Bad) Holzhausen, Foto: Sebastian Schröder.

Sebastian Schröder

Am Jahresende 1703 begannen am Haupt- und Gogericht der Grafschaft Ravensberg in Bielefeld die Untersuchungen zum Todesfall des Lenzinghauser Landwirts Kasting. Lenzinghausen war eine Bauerschaft in der Vogtei Enger im ravensbergischen Amt Sparrenberg und gehört heute zur Stadt Spenge im Kreis Herford. Relativ einig waren sich die Zeugen darüber, wie der Bauer verstarb: Ein Pferdegespann habe Kasting überrollt, der diesen Zusammenstoß nicht überlebte. Eine solche Tragödie erwies sich in der Vormoderne, in der die Arbeit mit Pferden zum Alltag gehörte, nicht unbedingt als Kuriosität. Gleichwohl erscheinen die Begleitumstände interessant und aufschlussreich.

In Lenzinghausen zählte das Stift Sankt Mauritz aus Münster zu den größten Grundherren. Ausweislich des Ravensberger Urbars von 1556 mussten nicht weniger als 23 Gehöfte dieser geistlichen Institution Abgaben leisten – darüber hinaus nennt das Urbar nur noch vier weitere Hofstätten. Münster lag nicht gerade in der Nähe, weshalb sich die Ablieferung der Naturalien und Pachtzahlungen nicht ganz einfach gestaltete. Die Reise in die ferne Bischofsstadt traten die Lenzinghauser wohl immer gemeinsam an. Ende 1703 habe der Konvoi nicht weniger als 15 Pferdefuhrwerke umfasst, berichtete der junge Meyer zu Lenzinghausen auf Befragen des Gerichts. Auf der Rückreise seien immerhin noch elf Wagen zusammengeblieben. Kurz vor der Heimat sollen Meyer zu Lenzinghausen und Niemann die Zügel gelockert haben und in vollem Galopp am übrigen Tross vorbeigezogen sein. Ein Zeuge sagte aus, dass sie vor allen anderen ihren Wohnort erreichen wollten. Dabei sei der 60-jährige Kasting, ein „steiffer Mensch“, unter die Räder gekommen. Er begleitete den Tross zu Fuß. Zwar habe ihm der Bauer Nonnensieck zuvor zugerufen, auf ein Gefährt zu springen, um sich zu schützen. Ein anderer Augenzeuge erzählte, wie sich Kasting noch umgedreht habe – und just in dem Moment von den heranrennenden Pferden erwischt worden sei. Die Tiere hätten ihn zu Boden geworfen und mit ihren Hufen in den Leib getreten. Schlussendlich sei ein Wagenrad direkt über den Hals Kastings gerollt. Den leblosen Körper des Lenzinghauser Bauern habe man auf das letzte Fuhrwerk im Konvoi gehoben.

Das zuständige Gerichtspersonal wollte natürlich darüber hinaus wissen, wer das Rennen veranlasst habe. An diesem Punkt weichen die Aussagen der Befragten teils weit voneinander ab. Der junge Meyer zu Lenzinghausen, ein etwa 20-jähriger Bauernsohn, bezichtigte den Spross des Landwirts Nonnensieck. Niemann Senior bestätigte diese Version, allerdings soll Nonnensieck die wilde Fahrt auf Geheiß von Habick begonnen haben. Auch Tönnies, der Filius von Niemann Senior, betonte, dass der Wagen Nonnensiecks an der Spitze des Trosses fuhr, als die Pferde in Bewegung gesetzt wurden. Der junge Niemann gab zu, dass er sofort auf Pferd und Wagen gesprungen sei und ebenfalls sein Gespann beschleunigt habe. Nun kam der ältere Nonnensieck zu Wort. Sein sowie Niemanns Sohn wären die Antreiber gewesen – allerdings hätte sie ausgerechnet der Bruder des unglücklich zu Tode Gekommenen, Habick, angestachelt. Absicht sei nicht im Spiel gewesen. Und die Jungen hätten auch keine Wette abgeschlossen, wer als erster das heimatliche Lenzinghausen erreiche. Vielmehr sei es ein „normales“ „Jagen“ gewesen – ausdrücklich kein „Wettjagen“, betonte Nonnensieck. Sein ebenfalls befragter Nachwuchs – der immerhin ganz besonders im Fokus der Justiz stand – wiederholte die Worte seines Vaters: „Es were keine Wette, sondern nur ein bloßes Jagen gewehsen.“ Tatsächlich sei er der erste Wagenführer gewesen, der seinen Pferden gehörig eingeheizt habe, bekannte Nonnensieck Junior. Allerdings habe er sich von Habick anstacheln lassen. Dieser soll zuvor gerufen haben: „Er solte denen andern, welche so langsahm fahreten, vorbeyjagen und sie dadurch lebendig machen.“

Diese Karte vom Ende des 18. Jahrhunderts zeigt die Umgebung von Lenzinghausen mit der Grenze zwischen den Ämtern beziehungsweisen Vogteien Werther und Enger. Ganz rechts ist das Gehöft des Meiers zu Lenzinghausen abgebildet, Foto: Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen, Kartensammlung A, Nr. 8505.

Das Gericht musste also darüber urteilen, ob es sich tatsächlich bloß um einen tragischen Unglücksfall handelte oder um einen mutwillig begangenen Mord. Zudem wird nicht ganz klar, welcher Wagen den Bauern Kasting überrollte. In einigen Schriftstücken heißt es, dass Kasting unter die Räder des Gefährts von Meyer zu Lenzinghausen gekommen sei. In den Zeugenprotokollen stand dagegen vornehmlich der junge Nonnensieck im Visier. Letztlich wendeten die Justizbehörden ohnehin keine allzu großen Anstrengungen auf, um diese Frage abschließend zu klären. Überhaupt tat sich nämlich noch ein ganz anderer Streitpunkt auf: Ereignet hatte sich der Unfall unweit des Gutes Steinhausen in der Nähe des ravensbergischen Wigbolds Halle. Nun lag Halle im Amt Ravensberg und nicht, wie Lenzinghausen, im Sparrenbergischen Verwaltungsdistrikt. In Halle tagte ein selbstständiges Gogericht, während Lenzinghausen dem Bielefelder Gerichtsbezirk unterstand. Erbittert stritten beide Justizbehörden, wer zuständig sei – diese Auseinandersetzung erscheint zunächst befremdlich, immerhin zählten doch beide Ämter Ravensberg und Sparrenberg zur Grafschaft Ravensberg und somit zur selben Landesherrschaft. Mit der Ausübung der Gerichtsbarkeit waren jedoch nicht unwesentliche Einnahmen und Gebühren verbunden; eine vom Strafaufkommen unabhängige Besoldung entwickelte sich erst in Ansätzen. Demzufolge waren die Richter und Schöffen tunlichst darauf bedacht, möglichst viele Prozesse zu verhandeln.

In dem Streit sprachen schlussendlich, nach mehrmonatigem Gerangel, der preußische König und seine Räte am ravensbergischen Appellationsgericht in Berlin ein Machtwort: Der Fall solle vor dem Haupt- und Gogericht in Bielefeld zu Ende geführt werden.

Der Ausgang des Verfahrens lässt sich leider aufgrund fehlender Akten nicht mehr ergründen. Gleichwohl ermöglichen die Dokumente auch so zahlreiche Eindrücke von der Gerichtspraxis in den ravensbergischen Bauerschaften und dem Widerstreit zwischen den verschiedenen Ämtern. Zudem erfährt man etwas über die Art und Weise, wie Abgaben und Pachtverpflichtungen dem Grundherrn abzuliefern waren. Schließlich wird deutlich, dass vor allem die jüngere Generation durchaus den Wettkampf suchte und sich austoben wollte – die sportliche Auseinandersetzung scheint ein bislang weitgehend unbekanntes Feld geselligen und sozialen Lebens in der frühneuzeitlichen Grafschaft Ravensberg zu sein.

 

Quelle: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I. Hauptabteilung: Geheimer Rat, Rep. 34: Herzogtum Kleve, Grafschaft Mark, Grafschaft Ravensberg; Beziehungen zu den Niederlanden, Nr. 1783: Verurteilung von Tötungsdelikten, 1649–1654, 1666–1678, 1684–1688, 1698–1707, fol. 11r–41r.