Und „überall ist alte Zeit“. Ein Artikel über Lemgo im „Täglichen Cincinnatier Volksblatt“ (1911)

13.07.2021 Dorothee Jahnke

Partie des Lemgoer Walls, mit Kindern beim Ziegenhüten, um 1900. Stadtarchiv Lemgo N 9, Fotoarchiv Ohle (Depositum Alt Lemgo / Mische) GPK 1074.

Jürgen Scheffler

 

„Das lippische Bergland ist das Land der Idyllen, die zierlich und nett überall da sind, wo man sie nicht vermuthet, es ist das Land verborgener, kleiner Schönheiten.“ So beginnt ein Artikel, der im Jahre 1911 erschienen ist und die Überschrift „Aus dem Lipper Land“ trägt.

Im Zentrum des Artikels steht ein Besuch in Lemgo, vom Verfasser als „die schönste alte lippische Stadt“ bezeichnet. Der Verfasser reiste mit der Bahn von Hameln aus an, stieg am Bahnhof in Brake aus und wanderte die Bega entlang über den Wall Richtung Innenstadt. Er lauschte den Gesprächen der Frauen, beobachtete die vielen Ziegen („überall rings um Lemgo in Gärten und auf Grasplätzen“) und war begeistert von dem „alten Gemäuer“. „Man mag straßauf, straßab wandern, in Gäßchen rechts, in Gäßchen links schauen, überall ist alte Zeit. (…) Und es sind nicht nur einige besonders reiche Renommierhäuser da, nein, durchgehends auch im kleinsten alten Häuschen des kleinen Mannes oder wenigstens in ihrer Stellung zueinander hat sich alte Schönheit erhalten.“

Lemgoer Rathaus mit Nikolaikirche. Foto: Frevert, Archiv für Alltagskultur, Bestand LVV, Inv.-Nr. 2001.00407.

Der Artikel ist ein Beispiel für die Entdeckung der Stadt Lemgo im Zeichen der Kleinstadtromantik. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts waren die ersten Stadt- und Reiseführer erschienen, die sich an die einheimische Bevölkerung ebenso wandten wie an Ausflugsgäste und Touristen. Beschränkten sich die Hinweise in den Baedeker-Ausgaben jeweils auf nur wenige Sätze, so wurden in den neu erschienenen Reiseführern das Stadtbild und die sehenswerten historischen Bauten ausführlich gewürdigt. Auch das Hexenbürgermeisterhaus, das Haus Wippermann, die Kirchen St. Nicolai und St. Marien, das Rathaus und das Gymnasium wurden in dem Artikel besonders hervorgehoben.

Zu den bislang unbekannten Texten von Bernhard Flemes gehört der Artikel über Lippe und Lemgo aus dem Jahre 1911. Was ihn bemerkenswert macht, ist der Ort der Veröffentlichung. Der Artikel ist am 15. November 1911 im „Täglichen Cincinnatier Volksblatt“ erschienen. Das „Volksblatt“ gehörte zu den etwa 200 deutsch-amerikanischen Zeitungen, die um die Wende zum 20. Jahrhundert veröffentlicht wurden. Es erschien täglich und soll zusammen mit der „Cincinnatier Freien Presse“ eine Auflage von mehr als 100.000 Exemplaren gehabt haben. Die deutschsprachige Tageszeitung veröffentlichte Nachrichten von lokaler und nationaler Bedeutung ebenso wie Artikel zu deutschen Themen.

Die Stadt Cincinnati, in der um 1900 etwa 326.000 Einwohner lebten, war eine ausgesprochene „Einwandererstadt“. Unter den Einwanderern bildeten die deutschen Neubürger und ihre Kinder die größte Gruppe. Im Jahre 1880 waren 44 % der Gesamtbevölkerung in Deutschland geboren oder hatten in Deutschland geborene Eltern (in absoluten Zahlen: 112.160 von 255.458). Zur deutschamerikanischen Community gehörte ein dicht gewebtes Netz von Vereinen, Schulen, Kirchengemeinden, Theatern und eben Zeitungen.

Die Einwanderer in Cincinnati kamen aus unterschiedlichen Regionen in Deutschland. Vermutlich stammten nur wenige aus dem Fürstentum Lippe. Die lippischen Auswanderer bevorzugten andere Regionen in den USA: an erster Stelle die eher ländlich geprägten Bundestaaten Missouri, Illinois, Wisconsin und Iowa. Laut Zensus aus dem Jahre 1880 hatten sich 42% aller deutschen Einwanderer in Städten niedergelassen. Von den Einwanderern aus dem Fürstentum Lippe waren es nur 11%. In welchem Umfang die lippischen Auswanderer die deutsch-amerikanischen Zeitungen lasen, ist in der Sekundärliteratur bislang kaum untersucht worden. Vermutlich wurden vor allem Zeitungen aus den Bundesstaaten gelesen, in denen sie sich angesiedelt hatten.

Von Bernhard Flemes sind in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg mehrere Artikel in deutsch-amerikanischen Zeitungen erschienen: Erzählungen und Feuilletons. Wie der Kontakt zwischen ihm und der Redaktion des „Täglichen Cincinnatier Volksblattes“ zustande gekommen war, ist nicht bekannt.

Das Junkerhaus heute. Foto: Christiane Cantauw, Kommission Alltagskulturforschung.

Der Artikel von Bernhard Flemes endet mit der Beschreibung einer besonderen Sehenswürdigkeit in der Stadt Lemgo: dem Junkerhaus. Der Verfasser erläutert den Namen, beschreibt seine Lage am Rande der Stadt („hübsch zwischen Birken und Gebüsch“) und sein Äußeres: „über und über mit Holschnitzereien des Besitzers benagelt“. Sein besonderes Interesse findet das Innere des Hauses: „Da ist jede Wand, jedes Möbel vom Erbauer geschnitzt. (…) Alle möglichen Zimmer sind da und alle mit dem gleichen bizarren Hausrath gefüllt.“ Hinzu kamen die Gemälde, „besonders Portraits des Künstlers, die alle in den leicht mit Gold- und Silbertönen betupften geschnitzten Rahmen stecken“. Vergeblich sucht der Autor nach Vergleichsmöglichkeiten. Er sieht das Besondere, aber auch die Grenzen der Kunst, der er im Haus begegnet ist: „ein ursprünglich vielleicht reicher Formensinn, der in die Sackgasse dieser Bizarrerien und Tüfteleien gerathen und darin stecken geblieben ist.“ Für ihn ist „ein Stilgefühl, ein Ringen (zu, d.V.) erkennen, dem Besseres geschehen konnte, als daß es in der eigenen holzgewordenen Phantasie sich festfuhr.“ Dennoch, so das Resümee: „(…) Lemgo hat eine Sehenswürdigkeit mehr.“

Der Artikel von Bernhard Flemes ist eine der ersten veröffentlichten Beschreibungen des Junkerhauses aus der Sicht eines Besuchers. Das macht seine Besonderheit aus. Bis dahin gab es nur kurze Bemerkungen über das Haus in den um 1900 erschienenen Stadtführern. Die Autoren wiesen darauf hin, dass es sich beim Junkerhaus um ein privates Museum handelte und man das Haus besichtigen konnte. Flemes hatte diese Möglichkeit wahrgenommen. In seinem Artikel würdigte er die Besonderheit des Hauses, blieb im Hinblick auf seinen Status als Kunstwerk aber skeptisch.

Der Artikel im „Täglichen Cincinnatier Volksblatt“ erschien am 15. November 1911. Nur zwei Monate später, am 21. Januar 1912, ist Karl Junker im Alter von 62 Jahren in Lemgo gestorben.

 

Den Hinweis auf den Artikel verdanke ich Dr. Gesa Snell, Stadthistorikerin in Hameln.

 

Literatur:
Bernhard Flemes: Erlebte Landschaft. Lyrik und Prosa, Hameln 1975 (Zitat: S. 9)
Robert Fuchs: Heirat in der Fremde. Deutschamerikaner in Cincinnati im späten 19. Jahrhundert, Paderborn 2014 (= Studien zur Historischen Migrationsforschung, Bd. 29) (Zum Presse- und Vereinswesen: S. 113-115).
Walter Kamphoefner: Lipper in der Neuen Welt, in: Lippische Mitteilungen, Bd. 76 (2007), S. 83-101.

Eine stark gekürzte Fassung dieses Beitrags wurde veröffentlicht in: Heimatland Lippe. Zeitschrift des Lippischen Heimatbundes und des Landesverbandes Lippe, Heft 2, 2021, S. 24-25.