Niklas Regenbrecht
„Im November 1908 erschien ein schreckenerregendes Ungeheuer mit Kopf und Schweif, aber ohne Leib und stetig größer werdend etwa 2 Wochen lang am nächtlichen Sternenhimmel und bedrohte die Erde mit seinem Untergang.“
So begann der ehemalige Lehrer Heinrich L. aus Wolbeck seinen Bericht über eine Naturerscheinung, die er von Lavesum aus beobachtete, die aber im ganzen Land sichtbar war.
„‘Komet‘ war sein unheimlicher Name, und sein milliarden km langer Schweif bestand aus lauter Welten, die er auf seinem ‚Spaziergang‘ durch das Weltall mitgenommen hatte. Nun war die Erde dran, von im dorthin getragen zu werden, wo Zeit und Raum ineinander übergehen, zu Schwelle der Ewigkeit. So der Volksglaube!“
Mehr als 60 Jahre später, im März 1969, verfasste Heinrich L. darüber einen Bericht für das damalige Archiv für westfälische Volkskunde in Münster (heute Archiv für Alltagskultur in Westfalen). Zwischen 1968 und 1971 verfasste der 1902 geborene Bauernsohn insgesamt 66 Berichte zu verschiedensten Themen, die auf dieser Seite auch schon Erwähnung gefunden haben (hier und hier). Was diese Naturerscheinung, der Komet mit dem Namen „Morehouse“, in der „Lavesumer Volkseele“ auslöste, schilderte Heinrich L. anhand des Verhaltens der Kinder, der Bauern und des Vikars. Zusätzlich rekapitulierte er ein mitgehörtes Gespräch seines Vaters mit zwei Bekannten.
„Die Eltern beruhigten ihre Kinder aus dem Rückhalt ihrer eigenen Unruhe, und der alte Vikar betete um die Abkürzung der zu erwartenden Geschehnisse. Es ist zu verstehen, daß die Bauern in dieser Situation von der Inangriffnahme größerer Vorhaben […] Abstand nahmen, und daß wir Kinder nach der allabendlichen Betrachtung des Kometen uns nicht mehr allein zur Ruhe begeben mochten.“
Die Erleichterung der Menschen, als der Komet vorbeigezogen und die Welt wider Erwarten doch nicht untergegangen war, war beträchtlich. Den Grund für diesen „Aberglauben“ sah L. vor allem bei den höheren Schulen, die der Astronomie nicht ausreichend Raum einräumen würden. Ein Blick auf die Bildung seiner Bezugspersonen schien diese Einschätzung zu bestätigen. Sein Vater und dessen Besucher machten sich dem Verfasser zufolge jedoch vorrangig Gedanken um den Verbleib des Kometen im All.
„Da niemand von den Dreien die Gesetze der Gravitation und die damit verbundenen Kurven der Kometen um die Sonne kannte, galt es als selbstverständlich, daß der Komet gradlinig durch das Weltall ‚sauste‘, und grade diese naiv realistische Anschauung ermöglichte es mir, der Unterhaltung folgen zu können.“ – so berichtete der zu diesem Zeitpunkt sechsjährige Heinrich L. und fuhr fort: „Wenn ich heute in meiner Rückschau die Unterhaltung über diese gradlinige Bewegung des Kometen als den astronomischen Teil des Gesprächs bezeichne, so muß ich die Diskussion darüber, ob das Weltall endlich oder unendlich sei, die sich ja logischer Weise daraus ergeben mußte, als das eigentliche metaphysische Problem bezeichnen. Während mein Vater den Standpunkt vertrat, das Weltall sei unendlich, und deshalb könne der Komet nicht wiederkommen, standen die beiden anderen auf dem Standpunkt, es sei endlich und der Komet käme wieder, und Bernhard Lohmann bekräftigte seine Ansicht noch damit, daß er den Komet für den Stern von Bethlehem hielt, und damit war die Unterhaltung schon in das Stadium der weltanschaulichen Deutung übergeleitet.“