Urlaubsfotos aus dem Jahr 1944

21.05.2019

Fotoalbum der Familie Brockpähler, hier 1944, Sammlung der Volkskundlichen Kommission (LWL).

Urlaubsfotos aus dem Jahr 1944

Kathrin Schulte

Eigentlich suchten wir ja nach Motiven für die Gestaltung unseres Blogs, die eine gewisse Themenvielfalt abbilden. Wir sichteten Manuskripte, Dias, ein kleines Sammelsurium an Kisten, in denen Archivgut seinen Weg zu uns fand. Und mehrere Fotoalben. Eines dieser Alben sicherte sich durch die eingeklebten Pflanzen direkt einen Platz im Header des Blogs, ließ uns jedoch auch in der folgenden Zeit nicht los. Es beinhaltet neben den Pflanzen Fotos mehrerer Familienurlaube einer Familie. Vor allem einer dieser Urlaube weckte unser Interesse: „Riesengebirgsreise 27.7. – 12.8.1944“ heißt es auf der ersten Seite. Hatten wir uns verlesen? Wer kommt denn zu dem Zeitpunkt auf die Idee, in Urlaub zu fahren? Zwei Besteigungen der Schneekoppe, datiert auf den 1. und 9. August 1944, die fotografisch festgehalten wurden, bestätigten das Datum. Die weiteren Urlaube der Familie, die in dem Album dokumentiert wurden, führten nach Siedlinghausen (Winterberg) (1951), Bad Tölz (1952), Willingen (1953), Kärnten und Venedig (beide 1954). Das Album ließ uns etwas ratlos zurück: Wieso fährt eine vierköpfige Familie weniger als ein Jahr vor Ende des Krieges für zwei Wochen in Urlaub? Der Krieg war längst in Deutschland spürbar geworden: Warum verlässt diese Familie in einer solchen Zeit ihr Zuhause, um in den Bergen wandern zu gehen?

Also begannen wir mit unserer Recherche. Bei den Besitzern des Albums handelte es sich um die Familie Brockpähler aus Münster. Renate, die Tochter der Familie und das Mädchen auf den Fotos, war später langjährige Mitarbeiterin in der Geschäftsstelle der Volkskundlichen Kommission. Diese Tatsache kam uns an dieser Stelle zugute, da ihr Nachlass in unserem Archiv lagert. Hierzu gehören auch ihre Tagebücher, die sie zu Jugendzeiten führte. Diese Tagebücher sind nicht nur eine großartige alltagshistorische Quelle, sondern liefern uns spannende Erkenntnisse, die durch Informationen aus der Literaturkommission über ihren Vater ergänzt wurden.

Der Vater der Familie, Wilhelm Brockpähler (1894 – 1980), war Lehrer, schied jedoch 1936 aufgrund eines Gehörleidens aus dem Schuldienst aus und arbeitete seitdem in der Geschäftsführung des Westfälischen Heimatbundes, dessen Leitung er später übernahm. Es ist davon auszugehen, dass er aufgrund seines Gehörleidens nicht wehrfähig war.

„Nun haben wir eine Zusage aus Petzer bei Trautenau im Riesengebirge, vermittelt durch einen Landrat Sölter, den Vati dort kennengelernt hat im Mai bei seinen Vorträgen. Ich denke, dass ich mir diese Reise jetzt redlich verdient habe und ich freue mich schrecklich!“, schreibt die damals 17jährige Renate am 23. Juli 1944, wenige Tage vor der Reise, in ihr Tagebuch. Zwar berichtet sie von einer beschwerlichen An- und Abreise in stark überfüllten Zügen. Der späteren Erholung scheint dies jedoch keinen Abbruch getan zu haben. So ungewöhnlich, wie es uns bei dem Blick in das Fotoalbum erschien, waren Reisen auch gegen Ende des 2. Weltkriegs offenbar nicht. Renate schreibt von Reiseplänen ihrer Freunde und von Reisen ihr bekannter Familien in dieser Zeit.

Für ihren Vater scheint die Reise nicht nur Vergnügen gewesen zu sein, Renate schreibt von mehreren Terminen und Abendessen mit dem Landrat und anderen Persönlichkeiten. Sie selbst nutzt den Urlaub jedoch vor allem zur Erholung: „Es ist alles so friedlich hier und es ist gut, ein paar Tage wenigstens in etwa den Krieg und alles zu vergessen, dann gehts nachher umso besser!“ Zurück in Münster, erlebt sie den Kontrast zu der Erholung der vergangenen Wochen: „‘Wieder in der Heimat‘, das kann man wohl sagen, wenn einen gleich in der ersten Nacht die Sirenen aus traumerfülltem Schlummer reissen.“

Renates Tagebucheinträge geben uns jedoch nicht nur Informationen zu dieser Urlaubsreise, sondern auch über den Alltag eines Teenagers in Münster während des Zweiten Weltkriegs. Sie schreibt über Luftangriffe, die 5 in Mathe, den Streit mit ihrer besten Freundin und häufig auch über aktuelle politische Geschehnisse und die Entwicklungen an der Front. Ende 1944 begann sie ihr Pflichtjahr beim Reichsarbeitsdienst und zeigt sich im Mai 1945 bestürzt über das Ende des Krieges:

„Daß ich jetzt so ruhig darüber schreiben kann, so selbstverständlich! Denn es ist wirklich das erste Mal, daß ich mich mit meiner Zukunft befassen muß, die nach der Niederlage Deutschlands, nicht nach dem Siege steht, an den ich, das merke ich jetzt, immer geglaubt habe. Denn wenn auch da ein Unterschied ist zwischen der begeisterten Patriotin vom Kriegsanfang, die sich übermütige Friedensfeste ausmalte und dem hartnäckigen Verteidiger des Guten an der ganzen Sache, so ist dies doch etwas, an das man nie zu denken wagte und was man in seiner ganzen Tragweite bestimmt noch nicht begreift.“ (06.05.1945)

Wie sehr Renate sich mit der Niederlage Deutschlands und den Folgen beschäftigte, zeigen die weiteren Tagebucheinträge. Obgleich sie noch immer von ihrem Alltag berichtet, werden ihre Einträge philosophischer, tiefgründiger und nachdenklicher. So schreibt sie im Spätsommer 1946: „Zwei Menschen wohnen in mir, der eine sprudelt vom Leben, Heiterkeit und reinstem Optimismus, der andere findet sich nicht mehr zurecht im Leben. Was uns fehlt, das ist ein Ziel, nach dem wir streben, eine Idee, an die wir glauben.“

Später war Renate Brockpähler in der Friedensbewegung aktiv und las in dem Zusammenhang auch aus ihren Tagebüchern vor.

Die Fotos in diesem Artikel stammen von Christiane Cantauw, Volkskundliche Kommission (LWL).