Verbrechen und Aberglaube – der Direktor der Polizeischule Recklinghausen liest volkskundliche Abhandlungen

17.09.2024 Marcel Brüntrup

Timo Luks

Ende des 19. Jahrhunderts erlebte das rheinisch-westfälische Industriegebiet einschneidende Veränderungen in Sachen der kommunalen Polizeiorganisation. Der Bergarbeiterstreik (1889) – eine der großen sozialen Erschütterungen des Kaiserreichs – hatte deutlich gezeigt, dass Militär und private „Zechenpolizei“ bei der Wahrung der öffentlichen Ordnung mehr Probleme verursachten als lösten. Politik und Behörden reagierten darauf mit einer Modernisierung der Polizei. Einerseits brachte das eine erhebliche Vergrößerung der Polizeimannschaften, andererseits Professionalisierungsschübe nicht zuletzt bei der Ausbildung.

Die Debatte um notwendige Polizeireformen, so der Historiker Ralph Jessen, war im Wesentlichen eine Debatte um eine Reform der Polizeiausbildung. Maßgeblich wurde die Einrichtung regionaler Polizeischulen, häufig initiiert und geleitet von (ehemaligen) Oberbeamten, die langjährige Erfahrung in der Kommunalpolizei mit einer Autorentätigkeit verbanden und in der Regel seit Längere mit Reformvorschlägen aufwarteten. Dabei sei auffällig, so Jessen, dass „die Polizeischulbewegung ihren Ausgangspunkt und ihr Schwergewicht im rheinisch-westfälischen Industriegebiet hatte“ (S. 202). Barmen, Krefeld, Düsseldorf, Duisburg, Elberfeld und Essen schlossen sich 1901 zu einem Trägerverein zusammen, „der die erste kommunale Polizeischule Preußens in Düsseldorf einrichtete“. 1902 wurde die vom Münsteraner Regierungspräsidenten angeregte Polizeischule in Recklinghausen eröffnet. Vergleichbare Einrichtungen folgten in Dortmund, Bochum, Hagen und Gelsenkirchen. Die genannten Schulen konzentrierten sich auf die Ausbildung kommunaler Polizeibeamter und erhaben dafür Kursgebühren. Die Ausbildung dauerte zwei bis drei Monate und endete mit einer Prüfung.

Leiter der Polizeischule in Recklinghausen wurde der ehemalige Polizeiinspektor und Verfasser zahlreicher Hand- und Lehrbücher Friedrich Retzlaff. 1912 erschien das von ihm verantwortete Kleine Polizeihandbuch. Nach über eintausend Seiten findet sich darin ein zweiseitiger Absatz, den man so vielleicht nicht erwarten durfte:

Nicht unberücksichtigt darf der kriminelle Aberglaube bleiben, der als Verbrechensmotiv in Betracht kommen kann. Der Hexenglaube ist noch nicht ausgestorben. Der Okkultismus (Hypnose, Hellsehen, Gedankenübertragung), nährt den Hexenglauben. Daß Leute an ‚Verhexen des Viehes‘ oder der Kinder usw. glauben, zeigen die verschiedenen Strafprozesse. – Der Vampirglaube, daß gewisse Tote, deren Leiche nicht verwest, den Lebenden nächtlich das Blut aussaugen und dadurch töten. – Fallsucht-Besessenheit und Teufelsaustreiben. – Wechselbälge: der Aberglaube, daß mißgestaltete Kinder von bösen Zaubergestalten an Stelle des wirklichen Kindes umgetauscht seien. – Sympathiekuren, namentlich durch ‚weise Frauen‘. In den meisten Fällen betrügerische Ausnützung des herrschenden Aberglaubens. Ferner Blutbesprechen; Menschenfleisch als Medizin, Totenfetische als Heilmittel (Leichenschändung). Das Gesundbeten. Das Gesundbohren oder Einpflöcken der Krankheit in einen Baum (Baumfrevel). Das Wahrsagen, namentlich durch Zigeuner. Das Auffinden verborgener Schätze. – Prozeßtalismane, darunter sind Gegenstände zu verstehen, die kraft irgendwelcher mystischen Eigenschaften die Fähigkeit haben sollen, ihrem Eigentümer Glück in Prozessen zu bringen. ‚Gerichtssegen‘; ‚Himmelsbriefe‘, ‚Glückshauben‘, ‚Kaninchenpfoten‘ und dergl., die vor Leid und Bestrafung schützen. – Meineidszeremonien durch die man die Folgen eines Meineides von sich abwenden kann, namentlich der ‚Blitzableiter‘, indem der Schwörende die linke Hand abwärts hinter sich hält. Ebenso das Abschwören (die innere Handfläche dem Richter zuwenden) und dergl. Der Polizeibeamte muß bemüht sein, den im Volke herrschenden Aberglauben kennen zu lernen.“ (S. 1063f.)

Retzlaff verweist in seinem "Kleinen Polizeihandbuch" auf die Studie „Verbrechen und Aberglaube. Skizzen aus der volkskundlichen Kriminalistik“ des Juristen und Kriminologen Albert Hellwig.

Retzlaff verweist in der dazugehörigen Fußnote auf die Studie „Verbrechen und Aberglaube. Skizzen aus der volkskundlichen Kriminalistik“, die der Jurist und Kriminologe Albert Hellwig 1908 veröffentlicht hatte. Faktisch ist die Passage in Retzlaffs Buch wenig mehr als das abgeschriebene Inhaltsverzeichnis dieser Studie. Hellwig seinerseits trug Material aus Zeitungsberichten, Strafakten, brieflichen und mündlichen Mitteilungen usw. zusammen. Er stellte sich „auf den Standpunkt des folkloristisch gebildeten Kriminalisten“ und zielte darauf, den „praktischen Wert der Kenntnis des Volksglaubens“ für die Strafverfolgung aufzuzeigen. Die Beispiele, die er anführte, bezogen sich auf den gesamten europäischen Raum.

Hellwig unterschied verschiedene Ebenen: die Wirkung von Aberglauben als Verbrechensmotiv; „reinen Verbrechenaberglauben“ (sic); „volkstümliche Vorstellungen von angeblichen Verbrechen […], die unseres Erachtens das Volk sich nur einbildet, die in Wirklichkeit aber nicht vorkommen, so der Kinderraub der Zigeuner“ (S. 1) und schließlich Gaunereien, die den Aberglauben der Opfer ausnutzten.

So vielfältig die Formen von Aberglauben sind, die Hellwig zusammentrug, strafrechtlich relevant traten nur einige und diese auch nur in ähnlicher Weise in Erscheinung: als Beleidigung (etwa der Vorwurf der Hexerei), als Körperverletzung (etwa bei Teufelsaustreibungen oder Wunderheilern), als Betrug (wenn Geld ins Spiel kam) oder Diebstahl. Bezüglich letzteren verweist Hellwig etwas pauschal auf verschiedene Talismane, die dem „Volksglauben“ nach durch Verbrechen erworben werden müssten, um ihre Wirksamkeit zu erlangen. Mit Blick auf Kurpfuscher und Wunderheiler schrieb Hellwig:

Unseres Erachtens ist in der frivolen Ausnutzung vertrauensvoller Leichtgläubiger gerade ein strafschärfendes Moment zu sehen. Leider ist es auch sehr schwer, diese gewerbsmäßigen Kurpfuscher wegen Betrugs zu belangen, da sie selbstverständlich die herrschenden Anschauungen über Sympathiekuren kennen und bei der Krankenbehandlung in Nachahmung der Volksbräuche raffiniert benutzen und oft mit Erfolg vor Gericht behaupten, an den Erfolg ihrer Kuren selbst geglaubt zu haben. Einem mit den Einzelheiten des volksmedizinischen Aberglaubens völlig vertrauten Forscher wird es vielfach möglich sein, festzustellen, ob dies nur eine faule Ausrede ist oder nicht.“ (S. 45)

Handdeuter auf dem Send in Münster, 1948-1951, Archiv für Alltagskultur in Westfalen, Sign. 2015.00684.

Die scheinbar randständige Episode – ein ehemaliger Polizeiinspektor nimmt das Thema einer kleinen Studie, die ihm vielleicht zufällig in die Hände gefallen war, in sein Lehrbuch auf – verweist aber wohl doch auf einen größeren Zusammenhang: In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg scheint, bei aller Vorsicht, eine eigentümliche Wissensordnung entstanden zu sein, in der Volkskunde, Kriminalanthropologie, Rechtswissenschaft und Kriminalistik eine mit Blick auf die folgenden Jahrzehnte eher ungute Allianz eingingen. Dieses Wissen schlug in Polizeibehörden, Polizeischulen, Hörsälen und Gerichten Wurzeln. Es sind Episoden wie diese, an denen sich studieren lässt, wie Wissen in einer bestimmten Weise formatiert, politisiert und praktisch wirksam wurde.

Literatur:

Hellwig, Albert: Verbrechen und Aberglaube. Skizzen aus der volkskundlichen Kriminalistik, Leipzig 1908.

Jessen, Ralph: Polizei im Industrierevier. Modernisierung und Herrschaftspraxis im westfälischen Ruhrgebiet 1848–1914, Göttingen 1991.

Retzlaff, Friedrich: Das kleine Polizeihandbuch, Recklinghausen 1912.

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