Schwerpunkt Fotografie: Vergilbte Erinnerungen: Biografische Erzählungen in privaten Fotoalben

23.02.2024 Marcel Brüntrup

Marcel Brüntrup

„Fotos halten Erinnerungen fest“, 1980, Sammlung BF Nr. 15a.

Auf der vergilbten Fotografie sind zwei Personen zu sehen, die zusammen auf dem Sofa sitzen und interessiert einige vor ihnen auf dem Tisch liegende Fotos betrachten. Der Mann deutet mit dem kleinen Finger auf eines der Bilder, die Frau scheint gerade etwas zu erzählen. Die Wohnzimmereinrichtung und der typische Gelbstich des Abzugs deuten darauf hin, dass die hier beschriebene Fotografie in den 1970er Jahren entstanden ist. Später wurde das Foto in ein Album eingefügt und darunter mit dem Füller angemerkt: „Fotos halten Erinnerungen fest.“ Mit dieser schlichten Feststellung versehen wird das Bild zu einem anschaulichen Beispiel für die soziale Funktion der privaten Fotografie. Gemeinsame Erlebnisse, schöne Augenblicke und besondere Ereignisse werden fotografisch dokumentiert, um sie zu einem späteren Zeitpunkt allein oder zusammen mit Freunden oder Verwandten bei der gemeinsamen Betrachtung von Fotografien wieder aufleben zu lassen. Auf diese Weise werden persönliche Erinnerungen nicht nur vor dem Vergessen bewahrt, sondern im Moment der Rückschau werden die eigene Lebensgeschichte und familiäre Identität reflektiert. Das gemeinsame Betrachten der Bilder fördert so den Zusammenhalt innerhalb des Freundeskreises und der Familie. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu sah in der Stärkung der Familienbande sogar den wesentlichen Zweck der privaten Fotografie.

Familie mit Fotoalbum, 1930er, Sammlung BF Nr. 7c.

Neben dem eingangs beschriebenen Foto befinden sich auf der Albumseite zwei weitere Bilder. Aus diesen und den Beschriftungen geht hervor, dass hier der Auszug eines erwachsenen Kindes aus dem Elternhaus dokumentiert wurde. Die launige Seitenüberschrift „Exodus in die eigenen ‚99‘ Wände“ ist ein Insiderwitz, der womöglich schon während des Umzugs entstanden ist. Er richtet sich an die ‚eingeweihten‘ zukünftigen Betrachter:innen des Albums; für alle anderen bleibt er erklärungsbedürftig. Durch die Zusammenstellung der kommentierten Fotos auf einer Seite des Albums wird dem Dargestellten ein Kontext zugewiesen. Das in einen Sinnzusammenhang mit den anderen Bildern gebrachte Einzelfoto wird eingebettet in eine übergreifende Erzählung. Das Betrachten der Fotos am Wohnzimmertisch ist so als ein Moment der gemeinsamen Reflexion zu deuten, als eine biografische Selbstvergewisserung zu Beginn eines neuen Lebensabschnitts.

Das klassische analoge Fotoalbum war für lange Zeit das Mittel der Wahl zur Aufbewahrung und Präsentation privater Fotografien. Die charakteristischen Einsteckalben des 19. Jahrhunderts, zum überwiegenden Teil bestückt mit standardisierten Atelieraufnahmen, dienten vor allem adeligen und bürgerlichen Schichten zur ständischen oder genealogisch-familiären Selbstrepräsentation. Mit der zunehmend erschwinglichen Privatfotografie wandelte sich die Funktion des Fotoalbums im Laufe des 20. Jahrhunderts hin zu einem biographischen Dokument, in welchem private Schnappschüsse die individuelle Lebens- und Familiengeschichte illustrierten. Während die Anordnung der Fotos in den Alben zunächst traditionellen Mustern verhaftet blieb, erweiterte sich der Gestaltungsspielraum zunehmend. Insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden im Zuge des Wirtschaftswunders und der in den 1950er Jahren einsetzenden Reisewelle unzählige, immer kreativer gestaltete Familien- und Reisealben. Fotografien wurden zugeschnitten, zu Collagen angeordnet, mit Ansichtskarten, Geldscheinen, Eintrittskarten und anderen Souvenirs ergänzt und mit humorvollen Kommentaren versehen.

Souvenirs und private Fotos einer Pragreise, 1971, Sammlung BF Nr. 15b.

Der zusätzliche Verarbeitungsschritt der Albumgestaltung macht einzelne Schnappschüsse zum Teil einer Geschichte. Dabei muss die fotografierende Person nicht zwangsläufig diejenige sein, die zu einem späteren Zeitpunkt die passenden Abzüge auswählt, anordnet, montiert und beschriftet.

Während sogenannte Knipser-Bilder oft banale Situationen ohne besonderen künstlerischen Anspruch festhalten, verfolgt die Zusammenstellung eines Albums in der Regel bestimmte gestalterische und sinnstiftende Absichten. Einzelne Seiten des Albums werden häufig zu Sinneinheiten arrangiert, die fotografische Erinnerungen an bestimmte Personen oder Ereignisse (beispielsweise einen Umzug) enthalten. Durch die Auswahl, Anordnung und Kommentierung der Fotografien sowie die Abfolge der Seiten im Album wird ihnen erzählerische Struktur gegeben. Diese Struktur wiederum ordnet und interpretiert die eigene Lebens- und Familiengeschichte. Die Chronologie der Ereignisse wird dabei meist nur grob eingehalten; Rückblenden und Exkurse durchbrechen häufig die zeitliche Abfolge der visuellen Erzählung. Während einige Alben beinahe den Charakter einer detaillierten Familienchronik haben, sind andere von vornherein eher thematisch oder nach anderen Gesichtspunkten sortiert.

Rückblick in die eigene Jugend, 1938/1995, Sammlung BF Nr. 11a.

Unabhängig davon, wie der Inhalt ursprünglich angelegt wurde, ist der im Album vermittelte lebensgeschichtliche Entwurf nicht in Stein gemeißelt. Auf der oben beschriebenen Albumseite beispielsweise befand sich ursprünglich ein viertes Foto, das später wieder entfernt wurde. Über den Grund lässt sich nur spekulieren: Vielleicht wurde es in ein anderes Album eingefügt, eingerahmt oder verschenkt, vielleicht ist eine Beziehung in die Brüche gegangen. Spuren nachträglicher Überarbeitungen lassen sich in vielen Fotoalben finden. Manchmal werden die Abzüge mit großer Sorgfalt aus den Alben gelöst, neue eingefügt und Kommentare ergänzt, so dass die Veränderungen kaum auffallen. In anderen Fällen werden eingeklebte Fotos herausgeschnitten oder rabiat herausgerissen. Mehrfache Überarbeitungsschritte, in denen Fotos immer wieder ausgetauscht und neu angeordnet werden, sind keine Seltenheit. Während einige Alben und ihre Erzählungen im Laufe dieser Bearbeitungen erweitert und verfeinert werden, dienen andere eher als handliche Fotoarchive, aus denen Fotos beliebig entnommen und einem anderen Zweck zugeführt werden können. Die Spuren dieser Überarbeitungen verweisen auf den fortlaufenden Gebrauch der Fotoalben, der mit einer stetigen Um- und Neuinterpretation der eigenen Biografie einhergeht.

Mehrfach überarbeitete Albumseite, 1930er/40er, Sammlung BF Nr. 10i.

In den 1950er und 1960er Jahren erlebte die Erstellung kreativer Familien- und Reisealben ihre Hochphase. Ab den 1970er Jahren nahm jedoch die Verwendung von Fotoalben langsam wieder ab. Obwohl weiterhin eifrig fotografiert wurde, fand die stetig zunehmende Zahl von Fotos immer seltener ihren Platz in Alben. Mit der Verbreitung der Digitalfotografie wurde das traditionelle analoge Fotoalbum als Mittel zur Aufbewahrung und Präsentation von privaten Schnappschüssen schließlich von digitalen Bildergalerien und gedruckten Fotobüchern abgelöst.

Literatur

Pierre Bourdieu u.a., Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie, Frankfurt am Main 1981.

Cord Pagenstecher, Private Fotoalben als historische Quelle, in: Zeithistorische Forschungen 6, 2009, H. 3, S. 449–463.

Sandra Starke, Fenster und Spiegel. Private Fotografie zwischen Norm und Individualität, in: Historische Anthropologie 19, 2011, H. 3, S. 447–474.

Timm Starl, Knipser. Die Bildgeschichte der privaten Fotografie in Deutschland und Österreich von 1880 bis 1980, München 1995.