Verhext! Magie und Überlieferung

13.04.2021 Dorothee Jahnke

Milchzauber aus einem Axtstiel. Holzschnitt, 16. Jahrhundert. Bildarchiv Emslandmuseum Lingen.

Andreas Eiynck

 

In den 1950er-Jahren wusste nach Auskunft einer früheren Lehrerin in Wietmarschen (Grafschaft Bentheim) dort noch jedes Kind, dass eine bestimmte Familie im Dorf zum „Hexenvolk“ gehörte. In deren Haus sollten sich angeblich seltsame Dinge ereignen. Wenn jemand aus dieser Familie an einem fremden Haus vorbeiging, dann waren plötzlich Knoten in den Bettlaken und in den Wäschestücken. Starb damals ein Kind, dann kamen üblicherweise die Nachbarn und Verwandten an den offenen Sarg und legten Heiligenbildchen auf die Leiche. Aber wenn das jemand aus der besagten Familie machte, dann sah man „Ringe über dem Sarg tanzen“. Auch wollte niemand sein Vieh neben den Tieren aus diesem Hause stehen haben, aus Angst, es könne mit einer Krankheit behext werden. Die jungen Leute im Dorf wurden ermahnt, ja keine Liebschaft mit jemandem aus dieser Familie anzuknüpfen.

Über solche Vorstellungen vom „Hexenvolk“ berichtete das aufklärerische „Wochenblatt der Grafschaft Bentheim“ schon im Jahre 1804 und meinte: „Es ist unbegreiflich, wie in dem Gehirn eines Menschen der rasende Gedanke entstehen konnte, ‚das der Teufel mit den Hexen eine fleischliche Verbindung unterhalte‘. Noch unbegreiflicher ist es aber, dass diese tolle Meynung bey den frommsten und gelehrtesten Männern ihrer Zeit Glauben, und dass sie sogar bey den Gerichten Eingang fand, wo sie die fürchterlichsten Gräuel verursachte.“ Das Blatt schildert im Weiteren die schrecklichen Auswüchse von Hexenglauben und Hexenverfolgung. Am Ende des mehrseitigen Beitrags verweist der Redakteur auf die schlimmen Folgen, die ein Verdacht der Hexerei für die Betroffenen damals (also 1804) noch hatte: „‚Er oder Sie gehört zum Hexen-Volk‘, das ist die geheime Losung zum allgemeinen Abscheu. Und wenn gleich Niemand es wagt, jene schwarze Stammtafel öffentlich auszustellen, so raunt doch Einer sie dem Andern in’s Ohr; sie ist ein Geheimnis, welches Jeder weiß, und Jeder seinen Nachkommen hinterläßt, wie Er Selbst es vom Vater oder Mutter geerbt hat.“

Doch nicht nur in der abgelegenen Grafschaft Bentheim glaubten viele Menschen noch lange Zeit an Hexenvolk und Hexerei. Heinrich Bügener beschreibt in seinen Sagensammlungen „Grenzland-Sagen“ von 1926 und Witte Wiwkes“ (= weiße Frauen) von 1933 eine ganze Reihe von Hexenvorstellungen aus dem nordwestlichen Münsterland.

Die Ursachen, wie bestimmte Personen an Hexenkünste gelangt sein sollten, wird in den Sagen nicht thematisiert, wohl aber gibt es immer wieder Verbindungen zu Buchdruckerkunst, denn Bücher waren der einfachen Landbevölkerung lange Zeit unheimlich.

Die Gestalt der Hexen ähnelt sich in den meisten Sagen. Die Hexe erscheint als alte Weib, dass sich manchmal in ein Tier verwandeln kann, vorzugsweise in eine Maus, eine Kröte, eine Katze oder ein Rind. Sie kann Menschen und Tiere behexen, Personen oder sogar ganze Pferdewagen festbannen und die Arbeit von Menschen hemmen. Tote Dinge werden zum Leben erweckt und fliegen im Haus herum. Auch wechseln Dinge auf geheimnisvolle Weise ihren Standort. Selbst Gewitter mit Blitz und Donner werden von den Hexen veranlasst.

Als bevorzugte Erscheinungsorte von Hexen gelten abgelegene kleine Häuser, Kreuzwege und „düstere Steggen“ (also Hohlwege). Orte also, an denen es den Menschen früher besonders zur Nachtzeit sicherlich unheimlich war.

Es gab verschiedene Möglichkeiten, wie man die Hexenkräfte abwehren konnte. Johanneskraut, als Kranz gewunden und an der Tür befestigt, galt als Abwehrmittel. Hatte eine vermeintliche Hexe das Haus verlassen, sollte man eine Hand voll Salz ins offene Herdfeuer werfen, dann waren ihre Hexereien gebannt. Kinder musste man vor dem Bösen Blick der Hexe schützen.

Blieb ein Wagen im Sand stecken, so schaute man zuerst nach, ob eines der Räder 13 Speichen hatte – die 13. Speiche war dann der Arm der Hexe, die den Wagen festhielt. Sie musste mit der Axt herausgeschlagen werden, wodurch man gleichzeitig der Hexe der Arm zertrümmerte, egal, wo sie sich gerade aufhielt.

Hatte man das Gefühl, behext worden zu sein, dann half es angeblich, an einem Kreuzweg eine Hand voll Sand aufzuheben und sie jemand Ahnungslosem über den Kopf zu streuen. Der Zauber ging dann auf diese Person über.

Auch christliche Symbole wie Rosenkränze, Heiligenmedaillen usw. sollten Hexenkünste abwehren können. Geistlichen schrieb man besondere Kräfte gegen die Hexerei zu, über die sie als geweihte Priester verfügten oder die sie geheimen Büchern entnehmen konnten. Kreuze und Kreuzzeichen galten als abwehrkräftig. Zur Not half auch ein Kreuzzeichen, das man heimlich mit der Zunge im Mund geschlagen hatte. An Wegekreuzen konnten Hexen nicht vorbeigehen – auch daran waren sie zu erkennen.

Weit verbreitet war der Glaube an das Verhexen des Viehs und besonders an das Verhexen der Milch. Wollte diese nicht rahmen oder wurde die Butter sauer, dann hatte eine Hexe ihre Hände im Spiel.

Hexenglauben um 1930. Aus: Wiegelmann/Zender/Heilfurth (Hg.): Volkskunde. Eine Einführung. Berlin: 1977.

War das Vieh verhext, dann half in leichten Fällen schon das Aufdrücken eines Kreuzzeichens mit dem Daumen. Auch das Aufhängen von Benediktusmedaillen im Stall konnte nicht schaden. In schlimmen Fällen griff man zu stärkeren Maßnahmen. War ein verhexten Tier verendet, so entnahm man das Herz und spießte es auf einen Staken. Dann musste es in einem Wasserkessel über dem Herdfeuer gekocht werden. Sobald das Wasser brodelte, so glaubte man, musste die Hexe durch die Tür den Raum betreten, um das Herz aus dem Kessel an sich zu reißen. Dies war der richtige Moment, ihr mit Feuerzange, Püster (Blasrohr) und Aschenschaufel eine Lektion zu erteilen. An den Blessuren konnte man sie später wiedererkennen, oder auch an den Brandwunden, die sie sich durch das kochende Wasser zugezogen hatte.

Dass solche Praktiken wirklich angewandt wurden, zeigt ein Fall aus Breklenkamp an der holländischen Grenze, wo ein entsprechender Teufelsbann in den 1850er-Jahren gerichtlich untersucht wurde, weil man dort einen zufällig in das Haus eingetretenen Nachbarn als vermeintlichen Hexer identifiziert hatte.

Schon Heinz Bügener war bei seiner Sagensammlung aufgefallen, dass sich in der mündlichen Überlieferung verschiedene Vorstellung und Motive vermischen und überschneiden. Als Beispiel sei eine Sage aus Coesfeld zitiert:

„Eine eigenartige Hexengeschichte ist in Coesfeld beheimatet. Trat da ein landfahrendes Weib bei einer Familie ein und schenkte der Haustochter einen Apfel. Da sie ihn nicht gleich essen wollte, legte sie ihn in eine Tasse in den Schrank. Nach einigen Tagen verspürte das Mädchen großes Verlangen nach der schönen Frucht. Die Mutter jedoch forderte es auf, vorerst den Apfel mitten durchzuschneiden; denn man könne ja nicht wissen… Die Tochter nimmt das Messer und weicht entsetzt zurück. Aus dem Apfel kam eine ‚Pärre‘ (Kröte) hervor. Man riet ihr, das Tier unter der halben Messe in das Feuer zu werfen; aber zuvor sorgfältig alle Türen am Hause zu verschließen. Denn sobald die ‚Pärre‘ im Feuer brenne, erscheine die Hexe, die den Apfel schenkte, und nun gepeinigt würde, um Einlaß zu erheischen, den man ihr aber keineswegs gewähren dürfe.“

Hier trifft man in wenigen Zeilen auf die volle Breite des Phantastischen und Magischen, von Schneewittchen über das Verwandeln in eine Kröte bis zum brennenden Herzen, das die Hexe herbeizwingt.

Finstere Vergangenheit? Allzu fern sind die Vorstellungen von geheimnisvollen Kräften auch heute nicht. Das katholische Magazin „theo“ widmete 2019 eine ganze Ausgabe dem Thema „Magie – und was sonst noch unerklärlich ist“ und spricht in diesem Zusammenhang von einer „Sehnsucht nach Magie“, die dem Menschen innewohnt. Von altem Wissen über Zufall und Gelübde bis zur Mystik. Ein breites Feld, nicht nur für Ethnologen.

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