„Lotte Lang Wilhelm Tell Verlobte“. Was ein Verlobungsalbum über gesellschaftliche Konventionen und Veränderungsprozesse verrät

10.05.2022 Niklas Regenbrecht

Verlobungsalbum Tell.

Christiane Cantauw

Nicht nur mittels Verlobungskarten an ausgewählte Freunde und Familienmitglieder, sondern auch per Zeitungsinserat wurde der zu erwartende neue Familienstand von Lotte Lang und Wilhelm Tell aus Hagen am 20. August 1932 öffentlich gemacht: Sie hatten sich die Ehe versprochen, bezeichneten sich von nun an als „Verlobte“.

Dass Verlobungen per Karte und/oder Inserat bekanntgegeben wurden, zählte bereits um die Wende zum 20. Jahrhundert zum „guten Ton“. J. von Wedell beschreibt diese Form der Korrespondenz in der Ausgabe von 1919 ihres 1897 erstmals erschienenen Ratgebers „Wie soll ich mich benehmen?“  folgendermaßen: „Weiteren Kreisen wird die Verlobung entweder durch lithographierte Briefe (in Quartformat) oder durch Karten aus weißem steifen Papier mitgeteilt. […] Auf der inneren linken Seite zeigen die Eltern der Braut die Verlobung an, auf der rechten der Bräutigam.“ (S.377) Eine ähnliche Aufteilung wurde noch 1955 empfohlen: „Im allgemeinen zeigen die Brauteltern die Verlobung ihrer Tochter auf der linken Seite der Verlobungskarte, das Brautpaar auf der rechten Seite an. Sind die Brautleute aber alleinstehend oder schon im gesetzten Alter, dann gibt das Brautpaar allein seine Verlobung bekannt. Auf Verlobungsanzeigen können alle Titel und Rangabzeichen genannt werden. Es gehören ferner die beiderseitigen Adressen dazu […] und eventuell der Termin der offiziellen Verlobungsfeier.“ (Gertrud Oheim, Einmaleins des guten Tons, 1955, S. 183)

Verlobungsalbum Tell.

Zwischen 1919 und 1955 hatte sich aber bereits Wesentliches verändert: Die Anzeige der Brauteltern auf der Verlobungskarte war nicht mehr obligatorisch und Bräutigam und Braut standen nun auf der Karte gleichberechtigt nebeneinander. Das war auch im Fall der Verlobungskarte und der Zeitungsanzeige von Wilhelm Tell und Lotte Lang der Fall. Die Verlobten waren mit 25 (Wilhelm) resp. 26 Jahren (Lotte) zum Zeitpunkt der Verlobung zwar nicht mehr ganz jung, aber wohl auch nicht als Personen „im gesetzten Alter“ zu bezeichnen. Trotzdem tauchen die Brauteltern, zu denen ein gutes Verhältnis bestand, weder auf der Karte noch in der Anzeige auf. Karte und Inserat beschränken sich auf das Wesentliche: Zwei Namen, Anlass, Datum und Gratulationsadresse. Auf der Verlobungskarte befindet sich zudem als Dekorelement ein großes rotes Herz.

Der am 8. September 1907 geborene Wilhelm Tell stand 1932 kurz vor Abschluss seines kunsthistorischen Studiums, mit dem er eine Ausbildung zum Kunstgewerbelehrer am Staatlichen Berufspädagogischen Institut in Köln verband. Die nur einen Monat ältere Lotte Lang hatte er bei einem Praktikum an der städtischen (Kunst)Malerschule in Hagen kennengelernt. Wie lange sich beide vor der Verlobung bereits kannten, ist nicht überliefert. Wegen der Nähe Lottes und Wilhelms zur Kunst ist wohl davon auszugehen, dass sie die Verlobungskarte und auch die entsprechenden Danksagungen selbst gestaltet haben. Alle Karten sind nicht gedruckt, sondern handgezeichnet. Wichtige Gestaltungselemente waren dabei die Schrifttype sowie das rote Herz, das sich als Gestaltungselement auch durch das Verlobungsalbum zieht.

Verlobungsalbum Tell.

Das zwölfseitige Album im Folioformat, das offenbar nach der Verlobung angelegt wurde, ist kein kommerzielles Produkt, sondern besteht aus einzelnen Seiten aus schwerem cremeweißem Papier; die Seiten werden mittels einer rotfarbigen Fadenbindung zusammengehalten. Die Umschlagseiten aus demselben Papier sind nicht gestaltetet. Auf der ersten Innenseite wurde eine selbstgestaltete Karte im Stil der neuen Sachlichkeit eingeklebt. Die Karte im DIN A6-Format weist deutliche Bezüge zu den Biografien von Lotte Lang und Wilhelm Tell auf. So sind ihre Geburtsorte (Köln, Wien) mit entsprechenden bildlichen Anspielungen (Dom, Rhein, Prater, Musik) genannt und im unteren Teil wird auch auf die Sternzeichen Löwe und Jungfrau, unter denen die Verlobten geboren wurden, verwiesen. Vorherrschende Farben sind hier schwarz und rot, mit einigen wenigen gelben Akzenten.

Die folgenden drei Seiten wurden für die Verlobungskarte, die Verlobungsanzeige, drei Verlobungsfotos (auf einem sieht man auch die Mutter von Lotte) und die Danksagungen genutzt. Alle weiteren Seiten sind gefüllt mit Glückwunschkarten, Glückwunschbriefen und (Schmuck)Telegrammen von Verwandten, Freundeskreis und Bekannten. Als gezeichnetes Gestaltungselement findet sich auf vielen der Seiten ein senkrechter Schriftzug „Lotte Lang Wilhelm Tell Verlobte 20. August 1932“ (teils in Abwandlung). Zwischen den einzelnen Texteinheiten wurden rote Herzen platziert, die sich damit als ein durchgehendes Gestaltungselement erweisen.

Unter den Glückwunschkarten finden sich kommerzielle Produkte, aber auch selbstgezeichnete Karten. Auch die Briefe weisen teils ein deutliches Bemühen um einen individuellen, teils auch originellen Stil auf: „Es bleibt mir also nichts zu tun übrig, als Dir und Deiner lieben Braut meine herzlichsten Glück- und Segenswünsche auszusprechen und Euch alles das zu wünschen, was man für 20 Pfg. in den Heftchen: ‚Vorträge bei Verlobungen mit und ohne Kostüm‘ nachlesen kann.“

Glückwunschkarte, Verlobungsalbum Tell.

Das Verlobungsalbum Lang/Tell ist ein Beispiel dafür, wie sich Verlobung und Hochzeit seit dem 19. Jahrhundert verändert hatten. Romantik und Biedermeier hatten zwar die Liebe als Grundlage einer ehelichen Verbindung propagiert. Die Lebensverhältnisse eines überwiegenden Teils der Bevölkerung ließen für Liebesheiraten bis über die Wende zum 20. Jahrhundert jedoch nur wenig Raum. Auch die Rolle der Frau erfuhrt erst in der Zeit nach dem 1. Weltkrieg deutlich wahrnehmbare Veränderungen. Dass nicht die Brauteltern und der Bräutigam unter Ausschluss der Braut die Verlobung anzeigten, sondern sich das Paar selbst als Verlobte vorstellte, war in den 1930er Jahren durchaus noch neu. 

Telegramm, Verlobungsalbum Tell.

Wilhelm Tell und Lotte Lang inszenierten ihre Verlobung in dem Album nicht als Vertrag und Verbindung zweier Familien, sondern als Liebesschwur von zwei gleichberechtigten erwachsenen Individuen. Und sie benutzten ein zentrales Symbol, das sie zum Zeichen ihrer Liebe machten: das rote Herz. In den 1930er Jahren war dieses Symbol im Privaten/Profanen weitaus weniger präsent als heute. Als Gestaltungselement auf einer Verlobungskarte fällt es in dieser Zeit absolut aus dem Rahmen. Zeitgenössische kommerzielle Verlobungskarten enthielten sich dekorativer Elemente oder bedienten sich eines indirekten Formen- und Symbolkanons: Blumendekor (Myrthe, Lobelie etc.), Ringe, Kränze, Brautpaar.

Mit dem roten Herz finden Lotte Lang und Wilhelm Tell zu einer eigenen Sprache, die gestalterisch und textlich die Moderne widerspiegelt.

 

Quellen und Literatur:

Borscheid, Peter: Geld und Liebe: Zu den Auswirkungen des Romantischen auf die Partnerwahl im 19. Jahrhundert, in: Peter Borscheid/Hans J. Teuteberg (Hg.): Ehe, Liebe, Tod. Zum Wandel der Familie, der Geschlechts- und Generationenbeziehungen in der Neuzeit, Münster 1983, S. 112-134.

Ostermann, Monika: „… Bleibe mir heiter und lebensfroh!“ Deutscher Nachkriegsalltag im Spiegel der Kriegsgefangenenpost des Gefreiten Wilhelm Tell, Münster 2003 (unveröffentlichtes Manuskript, Archiv für Alltagskultur, Sign. K 03155.000)

Oheim, Gertrud: Einmaleins des guten Tons, 1. Aufl., Gütersloh 1955.

Verlobungsalbum Tell, Archiv für Alltagskultur, Bestand Familie Tell, Sign.: 2695

Wedell, J. von: Wie soll ich mich benehmen? Die Sitten der guten Gesellschaft in Aufnahmen nach dem Leben, Stuttgart [1919].

Kategorie: Aus unserer Sammlung

Schlagwort: Christiane Cantauw