Verwandtenbesuch aus Amerika. Familienforschung und kulturelle Praxis

15.11.2024 Niklas Regenbrecht

Beflaggung beim Familientreffen Deitering in Lohne 2018.

Andreas Eiynck

Nicht nur Donald Trump hat Vorfahren in Deutschland, sondern viele Millionen US-Amerikaner:innen können ihre familiären Wurzeln nach Deutschland zurückverfolgen. Durch die digitalen Recherchemöglichkeiten im Internet erlebt die Familienforschung zu deutschen Auswanderern diesseits und jenseits des Atlantiks derzeit eine Hochkonjunktur. Heute ist es kein Problem mehr, von den USA oder jedem anderen Ort der Welt aus digitalisierte Kirchenbücher in Deutschland einzusehen oder per E-Mail familiengeschichtliche Daten und Informationen bei Archiven, Behörden oder Familienforschern einzuholen.

Über entsprechende Portale ist es leicht möglich, auch potentielle Verwandte in Deutschland oder Amerika zu ermitteln und Kontakt zu ihnen aufzunehmen. In manchen Fällen kündigt sich dann irgendwann Besuch von Gästen aus Amerika an, mit denen man zwar irgendwie verwandt ist, die man aber ansonsten wenig kennt. Und damit entsteht die Frage: Wie ist so ein Besuch eigentlich zu gestalten?

Hier haben sich in den letzten Jahrzehnten nicht nur in Nordwestdeutschland bestimmte Muster entwickelt. Sie basieren auf der Tatsache, dass die meisten Auswanderer im 19. Jahrhundert aus den Reihen der Heuerleute und der nachgeborenen Bauernkinder stammten. So lässt sich die Herkunft einer Familie häufig in einem bestimmten Dorf oder auf einem bestimmten Bauernhof lokalisieren – sei es im Bauernhaus selber oder in einem der Heuerhäuser.

Besuch der Familie Stroot bei den Verwandten im Emsland.

Amerikanische Besucher:innen verbinden einen Besuch in der Heimat ihrer Vorfahren häufig mit einer Europareise. Neben dem Oktoberfest und weiteren touristischen Anziehungspunkten in Deutschland und Europa bildet der Abstecher zu den entfernten Verwandten für die Amerikaner:innen also nur einen Punkt auf einer größeren Reise.

Viele Auswanderer stammten aus ländlichen Regionen, in denen nicht unbedingt mit touristischen Highlights zu rechnen ist. Außerdem wissen die deutschen Verwandten zumeist auch gar nicht, wofür (außer Familienforschung) sich die Gäste aus den USA eigentlich interessieren: Baudenkmäler? Naturschönheiten? Konzerte oder Theaterbesuche? Oder doch lieber Familientreffen, Betriebsbesichtigungen oder Fahrradtouren durch das Dorf – aber können Amerikaner überhaupt Fahrrad fahren?

Meist führt die Übermittlung der konkreten Reisedaten dann zu einer gewissen Ernüchterung (oder auch Erleichterung), denn zwischen Rom, Paris und München, dem Oktoberfest und einem Abstecher nach Berlin bleiben für den Verwandtenbesuch meist nur ein, zwei Tage im Reiseprogramm. Sobald die Daten feststehen, beginnt für die örtliche Kontaktperson in Deutschland die Programmgestaltung. Und dafür braucht man Expertise. Die gibt es, zumal auf dem Lande, in Bereichen wie Agrar und Technik, aber nur selten in Historie. Und damit schlägt die Stunde der Heimat- und Familienforschung, deren Wissen nun plötzlich im Mittelpunkt steht.

Beim Besuch der Familie Poelker aus St. Louis präsentierte der Schützenverein Altenlingen die Königsketten mit den Plaketten der Vorfahren Pölker.

Stammbäume werden entworfen und verwandtschaftliche Beziehungen abgeklärt. Existiert das „Stammhaus“ der Auswanderer noch? Leben dort sogar noch entfernte Verwandte? Sind vielleicht noch auswärtige Verwandte vorhanden? Aus dem E-Mailkontakt entwickelt sich ein Familien- und nicht selten ein Dorfprojekt. Muss man den Bürgermeister informieren oder gar hinzuziehen, wenn Besucher:innen aus Amerika kommen? Vielleicht den Pastor – bei dem liegen ja die Kirchenbücher. Wo kann ein Treffen stattfinden, das jetzt doch weitere Kreise zieht als ursprünglich erwartet? Wer kann dabei helfen? Etwa Stammbäume ausdrucken oder alte Fotos reproduzieren? Und nicht zuletzt: Wer traut sich eigentlich zu, mit den Amerikanern Englisch zu sprechen?

Ausstellung zur Familiengeschichte beim Familientreffen Deitering 2018.

Verwandtenbesuche aus Amerika sind offenbar ein attraktives Ereignis, denn bei den meisten Besuchen stellen sich auch von weither angereiste Verwandte und viele Vertreter der jüngeren Generationen mit Kind und Kegel ein. Der Besuch einer Person aus den USA bildet häufig den Anlass für ein Familientreffen. Denn so ein:e Besucher:in kommt nicht jede Woche und niemand möchte das große Ereignis verpassen.

Endlich kommt der große Tag. Amerikaner:innen sind in der Regel kontaktfreudig und so verläuft die Begrüßung meistens herzlich. In der Kürze ist es für die Gäste aus den USA vermutlich unmöglich, die vielen angereisten entfernten Verwandten, angeheiratete Ehepartner:innen, Nachbar:innen oder weitere Gäste korrekt einzuordnen. Hier zählt jede*r dazu und dies erleichtert die Begegnung. Auch die deutschen Gäste – man bemüht sich ja, englisch zu sprechen – verfallen plötzlich ins „du“ beim Ansprechen von Fremden und Respektspersonen. Es herrscht eine heitere Atmosphäre. Kaffee und Kuchen, Bier und Grillspezialitäten tun ein Übriges. Natürlich werden auch Gastgeschenke ausgetauscht – gerne mit einem Bezug zur Familie oder zum Ort.

Anhand der vorbereiteten Stammbäume sind die verwandtschaftlichen Zugehörigkeiten meistens schnell geklärt. Weiteren Gesprächsstoff liefern alte Fotos sowie echte oder vermeintliche Ähnlichkeiten von Personen, die doch verwandtschaftlich schon etliche Generationen auseinanderliegen. Und manchmal stellt man am Ende fest, dass eine Ähnlichkeit im Aussehen wohl zweifellos vorhanden ist, die entsprechende Person aber zur angeheirateten Verwandtschaft gehört und gar nicht „blutsverwandt“ ist. Macht nichts – an diesem Tag heißt es, frei nach Annette von Droste-Hülshoff – Verwandtschaft ist ein weites Band. Dass unterdessen unentwegt fotografiert und gepostet wird, versteht sich da fast schon von selbst. Gerne berichtet auch die Lokalpresse über Besucher aus Amerika und so ist eine hohe Aufmerksamkeit für das Ereignis gewiss.

Wenn möglich, werden im Verlauf des Tages das „Stammhaus“ und die dort noch lebenden Verwandten oder heutigen Bewohner:innen aufgesucht. Nicht selten lassen sie es sich nicht nehmen, das Familientreffen selber auszurichten. Wo dies nicht möglich ist, übernehmen Verwandte und mitunter sogar Nachbarn gerne die Rolle des Gastgebers. Viele möchten an dem großen Ereignis teilhaben. Auch kleine Sehenswürdigkeiten vor Ort werden präsentiert und regelmäßig stehen auch Besuche der örtlichen Kirchen und der Friedhöfe mit den Grabstätten der deutschen Vorfahren auf dem Programm.

Meist müssen die Gäste aus Amerika am Folgetag schon wieder weiterreisen. Man vereinbart ein Wiedersehen, nicht selten erfolgt die Einladung zum Gegenbesuch in den USA.

Treffen der Familie Deitering mit Gästen aus den USA in Lohne 2018.

In der deutschen Verwandtschaft und im Heimatort bleibt das Ereignis noch lange in Erinnerung. Dafür sorgt in jedem Fall auch ein Gruppenfoto mit allen beteiligten Personen. Und es gilt schon als eine gewisse Ehre auf dem Lande, wenn man auch als Nichtverwandter zu so einem Treffen eingeladen wurde. Gerne berichtet auch die Lokalpresse ausführlich über Besuche aus Amerika und so ist den Organisatoren auch in der Zeit nach dem Besuch noch eine hohe Aufmerksamkeit für das Ereignis gewiss.

Viele deutsch-amerikanische Familienbegegnungen laufen nach diesem oder einem ähnlichen Schema. Die „Blutsverwandtschaft“ bildet dabei den äußeren Rahmen. Die erfolgreiche Organisation und die zahlreichen Unterstützer:innen vor Ort dokumentieren aber gleichzeitig das Netzwerk und das Ansehen der deutschen Verwandtschaft. So wird der Verwandtenbesuch aus Amerika zum Statussymbol in der ländlichen und kleinstädtischen Gesellschaft.

 

Grundlage dieses Textes bilden Besuche von Verwandten aus Amerika bei den Familien Hüwe in Horstmar-Leer, Deitering in Lohne, Eiynck in Coesfeld, Pölker in Lingen-Biener, Rakers in Lingen-Brockhausen, Kues in Lingen-Holthausen, Stroot in Lengerich, Gerdes in Lengerich, Rademaker in Lohne, Brockhoff in Messingen sowie zahlreiche Berichte über weitere Familientreffen mit Verwandten aus Amerika.

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Schlagworte: Andreas Eiynck · Familie