„Viele Kanonen, Tanks und Flieger…“.

18.02.2020

Helmut Machemer beim Schreiben, aufgenommen im Somer 1941 in der Ukraine. Fotograf unbekannt, Archiv für Alltagskultur in Westfalen.

Fotografien und „Frontberichte“ aus dem Bestand Machemer

Nikola Böcker und Christiane Cantauw

„Hier sind sehr viele deutsche Soldaten, und wir haben viele Kanonen, Tanks und Flieger. Wenn Vati erst wieder bei Euch ist, wird er Euch viel erzählen und viele schöne Bilder und Filme zeigen.“

Diese Worte richtete der Sanitäts-Unterarzt Helmut Machemer am 9. November 1941 von der Ostfront an seine drei Söhne. Beinahe 80 Jahre später, im Jahr 2018, übergab einer der Söhne die umfangreiche Sammlung seines Vaters an die Volkskundliche Kommission. Neben über 1700 Bildern, mehreren Filmaufnahmen und Berichten sowohl vom Familienleben als auch vom Kriegsalltag befindet sich in dem Bestand auch der Briefwechsel zwischen Helmut Machemer und seiner Ehefrau Erna, die sich im Medizinstudium kennengelernt hatten.

Der Augenarzt Helmut Machemer hatte ursprünglich eine akademische Karriere im Sinn gehabt. Weil er sich jedoch während seiner Zeit als Assistenzart in einer Ehrenerklärung für seinen jüdischen Vorgesetzten Prof. Aurel von Szily verwendet hatte, fand seine zunächst vielversprechende Karriere an der Augenklinik ein jähes Ende (vgl. Hammerschmidt: Gedenkblatt, S.6).  

Hinzu kam, dass seine Ehefrau nach den von Hitler erlassenen Nürnberger Rassegesetzen („Reichsbürgergesetze“) als „jüdisch versippt“ galt, weil ihre Mutter vor ihrer Konvertierung jüdischen Glaubens gewesen war.  Dies alles erschwerte es ihm sehr, in der NS-Zeit beruflich Fuß zu fassen. Da ihm eine Kassenzulassung verweigert wurde, blieb ihm auch der Aufbau einer eigenen Praxis verwehrt. Als Angestellter eines niedergelassenen Arztes in Stadtlohn konnte er zwar die wachsende Familie finanziell über Wasser halten, die Verdienstmöglichkeiten waren aber deutlich schlechter als sie es mit einer eigenen Praxis gewesen wären. 

Vielleicht aus Unzufriedenheit mit seiner beruflichen Situation, vielleicht auch aus Überzeugung oder im Glauben, durch eine Bewährung im Krieg seine persönliche Lage zu verbessern, meldete Machemer sich bereits zu Kriegsbeginn freiwillig zum Dienst in der Wehrmacht.

Als Sanitäts-Unterarzt erlebte er den Zweiten Weltkrieg an der Front, in Frankreich ebenso wie in Bulgarien, Rumänien und der Ukraine. Wohl in der Absicht, seine Erfahrungen nach dem „Endsieg“, an den er fest glaubte, zu publizieren, bediente er sich unterschiedlicher Medien wie Film, Fotografie und schriftlicher Aufzeichnungen. In seinen Briefen fragte er immer wieder nach Filmmaterial, das er ebenso wie sämtliche Briefe, die er erhalten hatte, zurück an seine Frau nach Deutschland schickte. Erna Machemer war von ihm selbst angewiesen worden, seine als „Frontberichte“ bezeichneten Briefe zu sammeln und aufzubewahren. 

Machemer verfolgte offenbar das Ziel, seinen Kriegseinsatz möglichst umfassend zu dokumentieren. Seine Briefe, Fotografien und Filme lassen die Intention erkennen, den Angriffskrieg der deutschen Wehrmacht als logistische, organisatorische und menschliche Leistung zu legitimieren. Dazu gehörten für ihn sowohl Truppenübungen in Hessen oder Mahlzeiten mit Zivilisten/Nicht-Uniformierten in Bulgarien und Rumänien als auch ärztliche Untersuchungen im Feldlazarett oder Schlachtfelder im Schnee. Auch bei Gefechten war Machemer mit seiner Kamera dabei. Er fotografierte und filmte das zivile und militärische Leben in der Etappe ebenso wie die Grausamkeiten und Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung, die sich ihm und seinen Kameraden zeigten und die sie auch selbst begangen. Es sind tote und verstümmelte Soldaten zu sehen, erschossene Pferde und zerstörte Fahrzeuge oder die Inbrandsetzung von Häusern. Gegenüber seinen Kindern wird dieses Kriegsgeschehen zur Notwendigkeit und „Arbeitsaufgabe“ erklärt:

„Wenn Vati zu Euch im Auto fahren dürfte, müsste er eine Woche lang immerzu fahren, bis er bei Euch ist. So weit ist Russland von Stadtlohn entfernt. Aber Vati darf jetzt gar nicht von hier wegfahren, denn es sind noch nicht alle Russen totgeschossen oder gefangen.“ (Brief an die Söhne Robert, Hans und Peter vom 9. November 1941)

Helmut Machemers Briefe sind detailliert und erinnern stilistisch an Kriegsreportagen wie sie auch in den Tageszeitungen abgedruckt wurden oder in den Buchhandlungen zu kaufen waren. Seinen Brüdern gegenüber schildert er beispielsweise seine Erlebnisse bei der Schlacht am Asowschen Meer (26. 9. bis 11.10. 1941) in der Ukraine, in der die 2. Kompanie der Panzer-Aufklärungs-Abteilung 16, die zur 16. Panzer-Division gehörte, operative Erfolge verbuchte:

„Jetzt ein donnerndes Krachen, dicht hinter mir, eine Granate ist in der Nähe einiger Schützen im Talgrund krepiert. Einer ist schwer verwundet, ein anderer leicht. Ich springe hinüber, ziehe den Schwerverletzten hinunter in das Bachbett in Deckung. Schon gingen weitere Granaten in der Umgebung hoch. Ich suche den Verletzten zu verbinden, er hat eine große Wunde im Rücken, aber er stirbt mir unter den Händen. Mehrfach muss ich in Deckung gehen, da jetzt ein regelrechtes Trommelfeuer in der Schlucht liegt. Als ich um mich sehe, bemerke ich, dass ich mit dem Toten allein bin, die Kameraden sind schon weit vor.“ (Frontbericht, Brief an die Brüder Robert und Hans vom 27. Oktober 1941)

Das eingangs zitierte Versprechen an seine Söhne konnte Helmut Machemer nicht halten. Ein knappes halbes Jahr nach Verfassen des zitierten Briefs wurde er am 18. Mai 1942 in der Ukraine tödlich verwundet. Nach seinem Tod setzte sich sein Bruder weiterhin dafür ein, eine „Gleichstellung mit Vollariern der Hinterbliebenen des am 18. Mai 1942 bei Isjum gefallenen kriegsfreiwilligen Unterarztes Dr. med. et phil. Helmut Machemer“ zu erwirken. Am 10. April 1943 erhielt Erna Machemer schließlich eine vom Reichssippenamt ausgestellte Bescheinigung, die sie als „deutschblütig“ im Sinne der ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14. November 1935 einordnete.

Die von Machemer gefertigten Filme befinden sich beim LWL-Medienzentrum. Seine Korrespondenz und die Fotografien werden in der Volkskundlichen Kommission aufbewahrt und harren dort einer eingehenderen Untersuchung. Dieser außergewöhnliche Bestand kann vertieften Einblick geben in die komplexen, oft auch widersprüchlichen Handlungsorientierung im Lebens- und Kriegsalltag der NS-Diktatur.

 

Lit.: Hammerschmidt, Bernd: Gedenkblatt Helmut Machemer, in: Flurgespräche, 2015 http://www.flurgespraeche.de/wp-content/uploads/2015/10/Gedenkblatt_Machemer-Helmut.pdf