Von Abbrüchen und Anschwemmungen: Wie die Weser die Landschaft im Mindener Land verändert hat

23.04.2024 Marcel Brüntrup

Sebastian Schröder

Über Jahrhunderte hinweg haben Flüsse ihren Verlauf und ihre Gestalt immer wieder verändert. Wer sich mit Gewässern in historischer Perspektive beschäftigt, muss sich folglich von dem Gedanken verabschieden, Flüsse, Bäche oder Küsten hätten schon immer so ausgesehen, wie sie sich heute präsentieren. Genau das Gegenteil ist der Fall: Die Veränderungen waren nämlich mitunter enorm. Die legendäre versunkene Siedlung Rungholt an der Nordsee ist dafür eines der besten Beispiele. Auch die Weser nahm einst andere Verläufe. Ufer sackten ab; Land wurde an einer Stelle ab- und an anderer Stelle wieder angespült. Nebenarme entstanden und verlandeten wieder; mitunter bildeten sich kleine Inseln inmitten des Stroms. Angesichts derartiger Befunde sprechen Umwelthistorikerinnen und -historiker gerne von „Gewässer- oder Flusssystemen“. Damit verdeutlichen sie begrifflich, dass Gewässer einem steten natürlichen Wandel unterworfen waren – es war eben im wahrsten Wortsinn alles im Fluss. Dementsprechend sollte nicht nur der Hauptzweig eines Flusses oder Baches isoliert betrachtet werden, sondern das gesamte Umfeld, worunter unter anderem menschliche Einflüsse fallen. Im Bestand der Mindener Kriegs- und Domänenkammer haben sich zahlreiche Akten überliefert, die vom teils schwierigen Verhältnis zwischen den Menschen und der Weser berichten, wie im Folgenden exemplarisch dargestellt werden soll.

Aus dem Jahr 1729 stammt diese nach Westen ausgerichtete Zeichnung der Weser, die die Ortschaften Buchholz (heute Petershagen) (links im Bild) und Ilvese (heute Petershagen) (unten im Bild) sowie eine Schiffmühle (rechts im Bild) zeigt (LAV NRW W, W 051, Nr. 20383).

So hatte sich unweit von Ovenstädt im Fürstentum Minden zu Beginn des 18. Jahrhunderts eine Insel oder ein „Werder“ in der Weser gebildet – das bedeutete erhebliche Herausforderungen für die örtliche Bevölkerung. Das Eiland soll stattliche Ausmaße gehabt und ungefähr vier Hektar gemessen haben. Nach einiger Zeit wuchs Gras auf der Insel, sodass der Landesherr die Fläche verpachten ließ. Etwa konnten dort Pferde oder Rinder weiden. Da der Pegel der Weser nicht so hoch war, gelang es den Tieren, den Fluss zu Fuß zu queren. Die Verpachtung rief allerdings die umwohnenden Bauern auf den Plan, die sich sehr darüber ärgerten, dass der Pächter die Fläche ausschließlich für sich alleine nutzte. Dabei müsse bedacht werden, dass sich die Höhe ihrer Grundsteuer nicht verringert habe, obschon die Untertanen aufgrund der Uferabbrüche eine Verkleinerung ihrer Flächen hatten in Kauf nehmen müssen. Der Monarch profitiere also in gleich doppelter Hinsicht von der Weserinsel.

In den Folgejahren ergaben sich weitere Probleme, da die Weser aufgrund der Insel ihre Fließeigenschaften veränderte. Das führte dazu, wie die Ovenstädter Bevölkerung klagte, dass „der Strohm desto weiter auff unser Land eingedrungen, auch von Tage zu Tage noch ferner eindringet und unser Land beknappet“. Des Weiteren beschwerten sich diejenigen Bauern, deren Land in unmittelbarer Nähe der Weserfurt lag, dass alles Vieh des Pächters über ihre Grundstücke laufe, um die Insel zu erreichen – in mehrfacher Perspektive erweise sich die Verpachtung des Werders also als nachteilig für sie.

Ansicht der Weser im mindischen Amt Schlüsselburg mit dem Schloss Schlüsselburg westlich der Weser (unten im Bild) und dem Vorwerk Hühnerberg östlich des Stromes (im oberen Bildausschnitt), 1796 (LAV NRW W, W 051, Nr. 19723).

Auf der anderen Seite gab es selbstverständlich auch Landwirte, die vom ständigen Wandel des Flusssystems profitierten. In Schlüsselburg beziehungsweise Röhden, einer nördlich von Ovenstädt gelegenen Ortschaft, lebten zum Beispiel in den 1790er-Jahren Salzhändler Höpke und Bauer Meyer. Ihre an der Weser gelegenen Grundstücke hatten sich durch „Anfluß und Zuwachs“ erheblich vergrößert. Der neue Besitz weckte Begehrlichkeiten; vor allem bei anderen Bauern, die sich benachteiligt sahen. Höpke und Meyer argumentierten dagegen, es handele sich um „ein durch die Natur der Sache wohl erworbenes Eigenthum, weil es uns und niemand anders zugefloßen“. Sie seien sogar bereit, den landesherrlichen Kassen jährlich eine gewisse Abgabe zu leisten, wenn dadurch ihr Besitzstand dauerhaft gesichert werden könne. Die Mindener Kriegs- und Domänenräte überzeugte dieser Vorschlag nicht. Stattdessen verfolgten sie einen anderen Plan. Man müsse überlegen, das angeschwemmte Land mit schnellwachsenden Weiden zu bepflanzen. Diese könnten anschließend gefällt und für Uferbaumaßnahmen genutzt werden. Ein solcher Zweck käme der Allgemeinheit zugute, sodass niemand einen Nachteil habe.

Es zeigt sich also, dass die naturräumlichen Veränderungen Nutzungs- und Interessenskonflikte nach sich zogen. Während manche Menschen vom Wandel des Gewässersystems profitierten, schmälerten Abbrüche und Abschwemmungen den Besitz anderer. Die Haltung der landesherrlichen Behörden zu diesem Problem erwies sich als ambivalent. Zum einen nahmen die staatlichen Kassen die Pachteinnahmen gerne entgegen. Zum anderen waren sie darauf bedacht, die Ufer zu schützen, um den Strom auf diese Weise zu zähmen. Anstatt Weserinseln oder neuentstandenes Land zu versilbern, konnte man darauf auch Gehölze setzen, die Uferschutzmaßnahmen dienten.

Diese aus dem Jahr 1802 stammende Skizze zeigt einen Uferabbruch an der Werre im mindischen Amt Hausberge (LAV NRW W, D 607, Nr. 3687, fol. 82r).

Bei den bislang vorgestellten Fällen reagierte die Bevölkerung eher auf den Wandel der natürlichen Umgebung. Es konnte natürlich ebenso vorkommen, dass der Mensch seinerseits die Umwelt veränderte. Beispielsweise berichtete der Landwirt Wichmann aus Heimsen im Jahr 1797 von einer Wiese, die zu seiner Hofstätte gehörte. Das Grundstück liege in der Nähe der Anlegestelle der Fähre, die das rechtsseitige Heimsen mit dem links der Weser gelegenen Schlüsselburg verband. Vor mehr als hundert Jahren hätten seine Vorfahren die Fläche vom Stift Loccum als steuerfreies Grundstück erworben. Damals sei es „nur zum Theil nuzbar [gewesen], weil ein großer Raum aus Sümpfen, die mit Weiden besetzt waren, bestand[en]“ habe. Wichmanns Vorfahren legten Dämme zur Entwässerung an und rodeten den Baumbestand, sodass eine zur Viehweide geeignete Fläche entstand. Um die Gefahr von Uferabbrüchen zu verringern, habe man zudem hölzerne Pfähle eingeschlagen.

Familie Wichmann aus Heimsen griff also aktiv in die Umwelt ein, indem sie ehemaliges Überflutungsgebiet in eine Wiese umwandelte. Sie war nicht die einzige, die so handelte. Ihr Verhalten belegt beispielhaft, dass nicht nur der Strom das Leben der dörflichen Bevölkerung veränderte, sondern auch die Menschen die naturräumlichen Gegebenheiten ihren Bedürfnissen anzupassen suchten. Insofern zeugen die Akten der Kriegs- und Domänenkammer vom vielfältigen Wandel des Ökosystems Weser im 18. Jahrhundert.

Quellen:

Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen, D 607/Kriegs- und Domänenkammer Minden, Nr. 3648: Die von den Untertanen nachgesuchte Vererbpachtung von Weseranflüssen im Amte Schlüsselburg, 1793–1802.

Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen, D 607/Kriegs- und Domänenkammer Minden, Nr. 3729: Bildung einer Weserinsel bei Ovenstädt und Wegspülung von Ländereien der dortigen Eingesessenen, 1702–1763.

Die bisherigen Teile der Serie zur Kriegs- und Domänenkammer Minden:

Ein Dickicht voller Alltagskultur: Die preußischen Kriegs- und Domänenkammern in Westfalen im 18. Jahrhundert

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